10. Dezember 2011

THE GREATEST FILM CRITIQUE EVER WRITTEN

Ein Filmer wird zum Plakat für Markenprodukte, die er karikiert

POM WONDERFUL PRESENTS: THE GREATEST MOVIE EVER SOLD
eine freundliche Besprechung von FILM REPORT ermöglicht durch APEIRON FILMS und KinoBerlino

Ein spärlich bevölkerter Kinosaal in Berlin Friedrichshain. Freitagabend im Dezember 2011. Drei junge Frauen klettern auf die Bühne und kündigen einen Dokumentarfilm an. Zwei der Damen halten Plakate von Saxoprint hoch und laufen damit auf der Bühne aufreizend aber pikiert hin und her. Die dritte Frau (Festivalleiterin Anna Winkler) erwähnt diese Firma etliche Male und liest deren Werbeflyer vor. Die Präsentation erheitert, denn wir sitzen im 1. Internationalen Comedy Film Festival. Da ist Übertreibung geradezu Pflicht. 

http://www.contentmediacorp.com/common/file.php/pg/localhost74/contentfilm.com/binaries/3141/imageWie finanzieren sich Filme und Sendungen heutzutage? Genauer: Was sind Product Placement, Werbung, Marketing? Welche Auswirkungen haben sie auf Menschen, Meinungen, Integrität? Der durch den Fast Food Schocker SUPER SIZE ME bekannt gewordene amerikanische Dokumentarist Morgan Spurlock widmet sich diesen ökonomiekritischen Fragen in einem unterhaltsamen und lehrreichen Experiment. Da gehen die Augen auf und die Kinnlade klappt herunter.
Seine Grundidee ist, dass er charmante 1,5 Millionen Dollar von Firmen einsammeln möchte für genau diesen Film, der sich mit der Markenmacht und Omnipräsenz von Produktnamen in der Unterhaltungsindustrie befasst. Beispiele sind Blockbuster und Großproduktionen, die einerseits Produkte im Film zeigen und sie so mit Charme, Coolness oder Sexappeal der Stars verkaufsfördernd aufladen, andererseits durch Cross-Marketing (Spielfiguren bei Fast Food Ketten, Sammeltassen etc.) den Filmerfolg zu sich selbst zurückholen und Kunden binden. Aber funktioniert das auch bei Autorenfilmen und Dokus? Kann Spurlock das Paradox erschaffen, dass sich Kapitalisten offen und wissentlich von ihm lächerlich machen lassen und dafür sogar bezahlen?

Spurlocks Team arbeitet klassisch: Die Kamera folgt dem Protagonisten und Regisseur in die Chefetagen, zu Anwälten, Werbefachleuten, Postermalern, Musikbands, Fernsehredakteuren, Lehrern, Regisseuren und dem Straßenvolk. Die interviewten Personen geben ihre Meinung und Erfahrung zu seiner Idee kund und entblößen so teilweise unabsichtlich sich selbst und ihre Lebenseinstellung. Der Film handelt fast ausschließlich davon, wie Spurlock Strategen nach einer Verkaufsmethode befragt und wie er von Firmenchefs und deren Werbefachleuten Geld einsammelt oder zumeist herauskomplementiert wird.
Selbstreflexiv treibt Spurlock diese Methode auf die Spitze und sieht ein, dass er selbst zur Marke werden muss. Zunächst bekommt er sehr viele Ablehnungen von Firmen, deren Logos er ständig einblendet und so negativ darstellt. Das kennt man von Michael Moore. Nennen wir es: Den Profiteuren den Spiegel vorhalten. Man soll um Spurlock bangen und sich vor feindlichen Anwälten ängstigen, die ihn verklagen könnten, wie es in Amerika wohl üblich ist. Wird der Film scheitern?
  
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Morgan inszeniert sich leicht irritiert und zunehmend verzweifelt in Geschäften vor Regalen und hält zufällige Produkte ins Bild. Eines davon ist ein Pferdeshampoo, das auch Menschen benutzen können. Der Clou ist, dass Morgan zum Ende des Films hin mit dieser Firma spricht und für sie einen Werbspot macht. Darin sieht man ihn in einer Kamerafahrt mit Schaum im Haar, dann seinen nassen Sohn und schließlich ein shampooniertes Ponny zusammen in der Badewanne. Putzig! So funktioniert THE GREATEST MOVIE EVER SOLD.

Hoffnung macht Spurlock eine Fast-Food und Tankstellenkette, die ihm 100.000 $ geben. Im Gegenzug isst er im Film deren Burger bei Interviews in ihren Filialen und tankt seinen gesponserten Mini-Cooper nur bei ihnen. Weitere 50.000 $ bekommt Spurlock von einer Deodorant-Firma. Später sieht man das Produkt auf dem Tisch beim Interview mit Quentin Tarantino.
Aber der Knaller ist POM, ein Fruchtsaft aus Granatäpfeln. Ganz leger luchst Spurlock dieser Firma eine Million Dollar ab. Dafür tauchen sie nicht nur im Filmtitel auf. Er trinkt vertraglich gebunden nur noch ihren Saft im Bild, macht alle Konkurrenzprodukte unkenntlich, trägt einen Anzug mit ihrem Logo, das auch auf seinen Postern und Autos erscheint.
Zudem baut er direkt im Film drei selbst gemachte Spots für POM WONDERFUL ein, in denen er vergleichende Werbung macht. Zwar lehnt die Firma seine anzüglichen Entwürfe (mit Monster-Erektion) ab. Aber sie bezahlt einen marketingkritischen Film.
Spurlock brüstet sich damit, den ersten Dokumentarfilm mit integrierten Werbespots geschaffen zu haben. Er wirbt auch für eine Hotelkette und inszeniert sich in deren Bademantel in Slow-Motion schlendernd und genießend. Er benutzt nur eine einzige Fluggesellschaft und bastelt mit seinem fotogenen Kind einen Spielzeugflieger. Spurlock erscheint auf allen Bildschirmen in den Flugzeugen, findet sich auf Sammeltassen, Aufstellern, Postern, Werbeflächen und Großtransparenten. Er wird zur Litfasssäule, zum Logo-Mannequin, zur Selbst-Satire in Talkshows. Sogar in Schulen dürfen Fernsehsender Werbung in den USA ausstrahlen. Die Schulleiter kämpfen mit Budgetkürzungen und suchen händeringend nach legalen Finanzierungsmethoden durch Werbung. Das ist bitter.

Als Kontrastbeispiel recherchiert Spurlocks Team eine Großstadt, in der jedwede Außenwerbung verboten und abmontiert wurde. Sao Paulos Bevölkerung wird nicht jede Sekunde in der Öffentlichkeit von Logos, Postern und Leuchtreklame malträtiert und lobotomisiert. Man sieht eine Millionenmetropole, deren graue Hauswände frei von Produkthinweisen und Kaufanreizen sind. Politiker, Händler und Bürger berichten, wie das ihr Leben veränderte. Die Bürger freuen sich über weniger Ablenkung und Augenfrieden oder Kunst und Graffiti. Ihr Selbstwertgefühl steigt durch die Abwesenheit der Photoshop-verschönerten Supermodels und Stargesichter. Die Politiker zitieren Zufriedenheitsumfragen mit 90%. Viele Händler weichen auf Mundpropaganda und Schaufensterdekoration aus. Ihre Marken sind ja ohnehin schon im Unterbewusstsein der Konsumenten angekommen. Es geht also auch ohne permanente Markenhypnose in der Öffentlichkeit. Daran sollte sich Berlin ein Beispiel nehmen!

Wie wir aus unseren Seminaren und Lehrbüchern wissen und durch Talkshows, Feuilleton und Diskurse reflektieren, versucht Marketing in einer Welt der Überinformation, Diversifizierung, Online-Migration und Überproduktion dem Aufmerksamkeitsverfall und der Überalterung der Konsumenten mit Witz, Unterschwelligem, Plattem, Hypnose, PLP, Lügen oder Halbwahrheiten zu begegnen. Ziel von Webung und Politik ist ja, Menschen zum Konsum, zur Wahl zu bewegen und sie langfristig zu binden. Wiederhole deine Botschaft lange genug, um den Widerstand zu brechen! Tu es emotional und mit Klischees; magnetisiere mit Berühmten und Glücksversprechen!
Seit wir das wissen, sind wir keinesfalls alle immun. Aber wir können entscheiden, uns dem Mechanismus weniger auszusetzen oder ihn für unsere Zwecke anzupassen. Wenn Sie bis hierher lasen, interessieren Sie bestimmt auch einige der anderen Texte auf FILM REPORT. Einfach den Wunschtitel rechts klicken und cineastischer werden!

Was bei Leistungssportlern schon lange Usus ist, übernimmt Morgan Spurlock im Selbstversuch auch für den Dokumentarfilmbereich. Ob Werbung generell lügt oder ob Produkte glücklich machen, wird kaum kontrovers diskutiert, lediglich angeschnitten. Wir manipulieren uns alle ständig. Wir nennen es Gesellschaft. Produzenten nennen es Markt. Einige Strategen konditionieren unsere emotionalen Kaufreflexe. Wenn man glaubhaft sein will, braucht man Sichtbarkeit. So der Kernsatz eines Werbefuzzis in Miami. Spurlock kommentiert das nur, indem er es konsequent übertreibt und sich manchmal fragt, ob er sich nun verkauft hätte. Ja. Hat er. Aber für einen guten Zweck und mit erstaunlichem Ergebnis.
Selbst wenn nur einige der Zuschauer ab jetzt bewusster mit den Mechanismen der Marken-Strategen umgehen oder politisch aktiv werden, hat der Filmer sein Ziel erreicht. Wünschen wir ihm das Beste, vollere Kinosäle und einen stets gut mit Saft gefüllten Kühlschrank!

Der Name Spurlock taucht 15 Mal in diesem Artikel auf und verstärkt so das Branding!

Das Comedy Film Festival wurde laut Katalog zu 100% durch Crowdfunding finanziert bei Startnext. Ein Team von 24 Leuten brachte Freunde, Familie und Cineasten im Internet dazu, der Komödie in der Berliner Festivallandschaft durch Spenden eine Nische zu erobern. Wenn das bei kleinen Filmprojekten, Theatern oder Bands funktioniert, warum dann nicht auch bei einem Festival?
Eine Woche lang flimmern Lustiges und Absurdes, Schmunzelstoff und Schenkelklopfer über zwei Leinwände im Filmtheater am Friedrichshain. Hingehen und Lachen heißt also die Devise. Das hält gesund, trainiert das Zwerchfell, schüttet Glückshormone aus und macht eine zweite Auflage des Festivals möglich. Mit den Füßen abstimmen! Die Filmauswahl orientiert sich an Festivalerfolgen und dem Kuratorengeschmack. Willkommen in der Stadt mit fast täglichen Filmfesten! In der Flimmerkiste der Republik.