Wir sind alle seltsam
von Dave Lojek
Auch 2016 konnte man mit Glück, Erfahrung und Spürsinn gute
Filme auf der Berlinale entdecken. Zwar dominierten dramatische Arbeiten und
die Flüchtlingskrise das größte Filmfestival der Welt, aber es gab auch
Unterhaltsames oder Verschrobenes. Merryl Streep saß der Jury vor im Wettbewerb,
dem allerdings der Pepp fehlte. Arbeiten vom gesamten Filmglobus rotierten
durch die Kinos und füllten den Zuschauern die Köpfe mit neuen Bildern der
Uneindeutigkeit und den Veranstaltern die Taschen, damit er Zirkus weitergehen
kann. Abgeschirmt vom Endverbraucher redeten sich Produzenten und Verleiher,
Einkäufer und Studenten die Köpfe heiß auf dem Filmmarkt und bei den so
genannten Talents, von denen später einige mit Filmen auf das Festival
zurückkehren werden. Gefeiert wurde auch viel, weswegen man ja eigentlich
kommt. Aber schauen wir kurz auf einige Filmtitel:
Klarer Favorit war diesmal ALOYS von Tobias Nölle aus der
Schweiz in der Panorama-Sektion. Georg Friedrich läuft darin als eigenwilliger
Detektiv und Titelheld zur schauspielerischen Höchstform auf. Gleich zu Beginn
muss Aloys den Tod seines Vaters verarbeiten, indem er wie gewohnt mit einer
antiken Videokamera heimlich Menschen filmt. Als er nach missglückter Observierung
ohne seine Videosammlung aufwacht, beginnt ein Abenteuer, das diesen
verschlossenen Kerl aus der Reserve und in eine Fast-Romanze lockt. Seine
Nachbarin (Tilde von Overbeck) hat auch einen ulkigen Tick: Sie klaut im Zoo
einige Tiere und stellt sie in ihre Wohnung. Was ist ihr Geheimnis? Es macht
große Freude, diesen beiden Sonderbaren bei ihrem Gebaren am Telefon und dann
auch in vorsichtiger Annäherung zuzuschauen. Schweizer Humor.
Bekannte Namen schmücken Rebecca Millers Komödie MAGGIE’S
PLAN. Dieser besteht darin, sich ein Kind machen zu lassen in New York per
Spermaspende. Greta Gerwig schafft es als quirlige Dozentin Maggie, sich den
Kollegen Ethan Hawke zu schnappen, der aber schon eine eigene Familie mit
Julianne Moore hat, die diesmal recht sonderbar spielt. In einem sozialen
Experiment versucht sich Maggie an der Optimierung jeder Person, mit der sie
verbunden ist. Kurz gesagt geht es also um Beziehungen abgehobener Großstädter
und deren Neurosen in diesem Panorama-Beitrag, so wie bei Woody Allen.
Wer es etwas härter mag und gerne expliziten schwulen Sex im
Kino schaut, dürfte die ersten 10 Minuten aus THEO & HUGO (Teddy
Publikumspreis) von Oliver Ducastel erquickend finden. Man folgt dem jungen
Mann Theo (Geoffrey Couët) in einen dunklen Sexclub und bekommt viel nackte
Haut zu sehen. Nach Gestöhne und Penetrationen kommt auch schon der inhaltliche
Bruch. Der Rest des Films ist dann eine wie in Echtzeit anmutende Wanderung
durch das nächtliche Paris. Theo und Hugo (François Nambot) mögen sich, aber
stellen fest, dass sie ungeschützten anonymen Sex hatten und schnell in einem
Krankenhaus eine Anti-Aids Spritze brauchen, denn einer von ihnen trägt den
Virus in sich. So entsteht Dringlichkeit. Auf dem Weg ins Krankenhaus verlieben
sie sich und man entdeckt die französische Hauptstadt auf ungewohnte Art. Vor
wenigen Jahren begann der französische Schauspieler Geoffrey Couët auf dem
Internationalen Berliner KinoKabaret in Kurzfilmen seine Filmkarriere. Man darf
gespannt sein, was nach dieser mutigen Darstellung als Nächstes kommt. Vom
kleinen zum größten Filmfest ganz flink: Respekt!
Michael Moore reiste 2015 durch Europa, um seinen
amerikanischen Landsleuten vorzuführen, welche zivilisatorischen
Errungenschaften ihnen entgehen. Das ist keine neutrale Dokumentation, sondern
eben eine politische Erweckung. In WHERE TO INVADE NEXT aus dem Berlinale
Special lernen wir, dass es in Italien bezahlten Urlaub gibt, leckeres
Schulessen überall in Frankreich, keine Hausaufgaben und nur 4
Unterrichtsstunden für finnische Schüler, gleichgestellte Frauen in
isländischen Führungspositionen und legale Drogen in Portugal. Auch dürfen in
Slowenien Ausländer gratis studieren und die Deutschen mühen sich um eine
korrekte Vergangenheitsbewältigung. Zum Vergleich zeigt Moore dann auch Bilder
von amerikanischem Schulessen, das vor allem aus Zucker und Fett besteht. Diese
Collage malt vielleicht ein etwas zu rosiges Bild von Europa, denn Italien ist
extrem Pleite und Portugal ebenso. Es wird also auch hier ordentlich gelitten,
was sich in einem politischen Rechtsruck zeigt. Da aber bald die Amtszeit des
fortschrittlichen Präsidenten Obama in den USA endet, kann man eigentlich nur
die Amerikaner bedauern, denen viele der von Moore gezeigten Errungenschaften
unter einem Donald Trump noch lange fehlen werden.
Weitere sehenswerte Kinofilme kurz notiert:
In MIDNIGHT SPECIAL muss ein Vater seinen Sohn vor vielen Gefahren schützen, denn er hat eine ganz besondere Gabe. Ein düsterer Road-Movie um Sekten und Medien, der sich zur Science-Fiction entwickelt mit Michael Shannon und Kirsten Dunst. Das Ende entschädigt für die Schlichtheit am Anfang.
Die Coen-Brüder widmen sich in HAIL, CESAR! dem Hollywood
der 1950er und zeigen den alltäglichen Wahnsinn eines Studiobosses. Eddie (Josh
Brolin) muss sich mit dem verschwinden seines Stars (George Clooney)
herumschlagen, der gerade von Kommunisten entführt wurde, sich bei denen aber
gut amüsiert. Reporterinnen (2x Tilda Swinton) gehen Eddie auf den Geist,
während in seinen Studios Musicals und Western am Fließband produziert werden.
Gewohnt unterhaltsam wenn auch weniger originell als früher liefern die
Regisseure eine Hommage und Parodie auf die Filmwelt ab. Ein passender Eröffnungsfilm für die Berlinale.
Colin Firth spielt in GENIUS den geduldigen Lektor Perkins,
der sich mit den chaotischen und weitschweifigen Ergüssen des unbekannten
Autors Thomas Wolfe (Jude Law) auseinandersetzt, um sie in eine Buchform zu
verwandeln im New York der 1920er. Das Gespür des Lektors und ein langes Ringen
um Konsistenz zeigen uns, dass Bestseller nicht einfach vom Himmel fallen.