22. Februar 2010

Glukhota

Außen vor

Ukrainischer Beitrag bei den Berlinale Shorts 2010

Ein interessantes Experiment: Ein Film ganz ohne Sprache war das Konzept des ukrainischen Regisseurs Myroslav Slaboshpytskiy. Die Kamera fängt ein Geschehen vor einer Taubstummenschule ein und wer der Gebärdensprache mächtig ist, kann verstehen, was da vor sich geht. Der normal Hörende muss sich die Geschichte aus den Bildern zusammen reihen, und die sind dürftig: Eine einzige Kameraeinstellung, die das Geschehen ohne Schnitt verfolgt, muss reichen, um die rätselhafte Begebenheit zu erzählen.

Viel passiert nicht: Man sieht zwei junge Männer auf dem Hof einer staatlichen Einrichtung, der eine wild gestikulierend, teilt dem anderen sein Anliegen mit. Schließlich verabschieden sich beiden mit einer handfesten Umarmung, und gehen in verschiedenen Richtungen auseinander. Kurz darauf fährt ein Polizeiwagen vor. Einer von zwei Beamten steigt aus, winkt eine Schülerin an den Zaun, schreibt etwas in ein Buch, reicht es ihr rüber, sie holt daraufhin einen der beiden Männer zurück. Der verhält sich dem Polizisten gegenüber unnahbar, folgt diesem jedoch in seinen Wagen und wird dort, bei laufendem Motor, von den Beamten ordentlich in die Mangel genommen. Schließlich schreibt auch er etwas in das Notizbuch, darf dann das Fahrzeug verlassen und blickt ihm schließlich, wild beschimpfend – diese Zeichen versteht auch der Nicht-Taube – hinterher. Was war da los?

Der Zuschauer erfährt es nicht wirklich. Aber die Bilder reichen, um den Film im Kopf weiterlaufen zu lassen. Urteile selbst: Auf welcher Seite stehst Du, Publikum? Wer kann schon sicher sagen, ob das Gebaren der Polizisten als Kritik zu verstehen ist, oder das mysteriöse Gemauschel der jungen Männer diese Handhabe eben erst provozierte?! Genau darin liegt die Kunst dieser kurzen Erzählung.



Originaltitel:Glukhota
Deutscher Titel:Taub
Land:Ukraine
Jahr:2010
Regie:Myroslav Slaboshpytskiy
Mit:Dmytro Sokol, Oleksand Fomichov, Sergiy Gavryluk
Buch:Myroslav Slaboshpytskiy
Produzent:Elena Slaboshpytskaya, Volodymyr Tykhiy, Denys Ivanov, Yana Semernya
Kamera:Dmytro Sannykov

Dauer:11 min

Rezensent:Verena Schulemann
Bewertung:  * * *

HÄNDELSE VID BANK

Ansehen aber nicht reflektieren

Gewinner der Berlinale Shorts 2010

Betrachtung und Reflexion ist nicht dasselbe. Bedarf es für das Erstere allein des visuellen Werkzeugs, braucht es fürs Letztere geistige Fähigkeiten zur Selbstbetrachtung und selbständigen Einordnung in einen Kontext – Grundlage verstandesmäßigen Handelns.
Dass dieses im Medienzeitalter immer mehr verdrängt werde, dass den Menschen durch die Realitätsferne der Bilder, die sie tagtäglich an ihren Bildschirmen betrachten, zwar ein Übermaß an Betrachtung aber kaum noch Reflexion abverlangt wird, ist keine neue Kritik.

Diese Kritik zum Inhalt eines Kurzfilmes zu machen, aber schon. Der Blickwinkel des schwedischer Regisseurs Ruben Östlund, der sich mit seinem Film HÄNDELSE VID BANK auf eine wahre Begebenheit eines misslungenen Banküberfalles aus dem Jahr 2006 bezieht, ist der eines Theaterzuschauers: Die Kulisse bildet die architektonisch praktisch gestaltete Fassade einer Bank. Sie wird von einem bewaffneten und vermummten Räuberduo erstürmt und 94 (!) weitere Darsteller machen das Randgeschehen erfahrbar. Die Räuber eilen auf dem Mofa herbei, stürmen die Bank, es fallen Schüsse, ein Hausmeister huscht zum Flucht-Mofa und wird schließlich mit Ballerei verjagt, ein Abi-Jahrgang zieht vollkommen unbeteiligt jubelnd auf einem Festwagen vorbei. Ein paar Jugendliche mit ihren Skateboards zucken beim Abfeuern der Handfeuerwaffen zusammen, ein Pärchen sucht schreiend das Weite. Schließlich kann einer der beiden von einem Sicherheitsteam überwältigt werden. Der Zweite entkommt.
Kommentiert wird diese Gesellschaftsparabel von zwei Männern im Vordergrund, deren naive Betrachtung zugleich die oben ausgeführte Reflexionskritik erfahrbar macht. Wie ein Fernsehspiel beobachten die beiden das gefährliche Geschehen und fragen sich, ob sie die Polizei rufen sollen, oder nicht und ob es sich hier wohl um einen Banküberfall handelt.
Schließlich verstehen auch die beiden in Passivität geübten Augenzeugen, dass hier etwas Ungewöhnliches seinen Lauf nimmt – und die logische Reaktion dieser beiden Zeitgeist-Protagonisten ist natürlich, das Geschehen mit ihrer Handykamera aufzunehmen. Dabei ärgern sie sich über das Zittern der Hände „vor Aufregung“, noch mehr aber über die eingeschränkten Zoommöglichkeiten trotz angeblicher 8 Megapixel. Und sind am Ende doch stolz über die mediale Beute, ziehen plaudernd von dannen, während der am Boden gehaltene Bankräuber verzweifelt schreit: “Ich habe nichts getan!”
Abgebrüht kann man das nicht nennen, vielleicht aber Trägheit des Herzens. Doch daran störte sich bereits die Kirche, die sie zu den sieben Todsünden zählt – ist also beileibe kein Phänomen der Neuzeit.

Zeigefinder-Mentalität war sicher nicht Östlunds Anliegen, der zurzeit seinen dritten Spielfilm dreht, sondern vielmehr das Stilmittel der Ironie, das auch die Berlinale-Jury überzeugte, der der Film ein Goldener Bär wert war. Neben den perfekten Dialogen lobte sie die humorvolle Darstellung der Menschlichkeit. Schön gesagt.
Bewertung:* * * * *
Originaltitel: HÄNDELSE VID BANK
Deutscher Titel:ZWISCHENFALL VOR EINER BANK
Land:Schweden
Jahr:2010
Regie:Ruben Östlund
Mit:Henrik Vikman, Lars Melin, Bahador Foladi, Ramtin Parvaneh, Leif Edlund Johansson, Rasmus Lindgren, Per-Olof Albrektsson
Buch:Ruben Östlund
Produzent:Marie Kjellson, Erik Hemmendorff
Kamera:Marius Dybwad Brandrud

Dauer:12 min
Rezensent:Verena Schulemann

18. Februar 2010

Sebbe

Viel ertragen

Familiendrama im Programm der Berlinale Generation 14plus

Manchmal lohnt sich für den Kritiker bei der Berlinale eine Vorstellung mit dem Zielpublikum. In diesem Fall sind es Jugendliche im Alter des Gymnasiasten Sebastian, kurz Sebbe. Ihre Reaktionen kommen ungefiltert und erschrecken mitunter. Als Sebbe von drei stärkeren Mitschülern gehänselt, verprügelt, beschimpft und misshandelt wird, lachen einige Jungs im Kino, da sie über eine geringere Reflektionsfähigkeit verfügen. Pädagogen und Eltern haben also noch viel Arbeit vor sich. Ich durchlebte meine eigenen Flashbacks mit Hänseleien. Aha, die Empathie mit dem Protagonisten ist etabliert über sein Leiden.

Der Film spielt in Schweden. Sebbes junge Mutter Eva verarbeitet immer noch den Tod ihres Mannes, worunter auch der Junge leidet. Eva betrinkt sich regelmäßig und vegetiert als nächtliche Zeitungsausträgerin vor sich hin, verzweifelt an ihrer Armut. Trist und grau ist der Winter. In der Schule hat Sebbe nichts zu lachen, weshalb er manchmal schwänzt, lieber frierend Schrott sammelt und sich ein Moped aus einem Kettensägenmotor und einem Fahrrad bastelt. Sein Zimmer erstrahlt von hundert Glühbirnen. Freunde hat er keine. Seine Familie löst sich auf. Wohin also wenden?

Schauspielerisch bietet SEBBE einige sehr intensive Momente, die das Drama voranbringen. In Streits und Trauerszenen zeigt sich, dass die lange Probenzeit sich auszahlte und die Figuren präzise erarbeitet sind. Die vergnügte Kleiderschlacht mit Eva lockert die große Schwere auf. Ein symbolischer schwarzer Hund verfolgt Eva nach dem Einkauf, später sitzt Sebbe in dem Bus, der den Hund überfährt.

Das Sujet der Familienzerfalls steht ja derzeit filmisch hoch im Kurs. Regisseur Babak Najafi gab sich zwar wortkarg und mysteriös bei Publikumsfragen, ließ aber durchscheinen, er hätte mit diesem Film Abstand von klassischen narrativen Mustern genommen. So mag man es ausdrücken. Böse Zungen könnten auch von zu wenig strukturierter Dramaturgie sprechen, die dennoch bei Tränen anfängt und einen Bogen mit Steigerungen zum Ende bildet. In der Tragödie wäre das die Katastrophe. Fast. Teilen des Zielpublikums kam das dann wohl langweilig vor. Aber die Erwartungen an schwedische Spielfilme darf man als hoch bezeichnen, weshalb dieses ruhigere Portrait durchaus solide gemacht wirkt.

Sebbe beweist sehr viel Geduld und steckt jede Menge ein, bevor ihm der Kragen platzt. Er lernt die Einsamkeit kennen. Sein Nachbar und Oberpeiniger beschuldigt ihn des Diebstahls, obwohl er die strittige Jacke zum Geburtstag bekam. Man wartet darauf, dass Sebbe zurück schlägt. Schließlich schleicht er sich auf einen Tagebau in die Dynamitkammer. Sind wir etwa die Vorgeschichte eines Amokschülers geraten? Sehen sie selbst!
Kritik von:Dave
Bewertung:* * * *


Originaltitel:SEBBE
Deutscher Titel:SEBBE
Land:Schweden
Jahr:2009
Regie:Babak Najafi
Mit:Sebastian Hiort af Ornäs, Eva Melander, Kenny Wåhlbrink
Buch:Babak Najafi
Produzent:Rebecka Lafrenz, Mimmi Spång
Kamera:Simon Pramsten


Dauer:79 min


Produktionsfirma:http://www.garagefilm.se

Narben im Beton

Noch ein Sozialdrama

Porträt einer Mutter in Not – Berlinale Perspektive 2010


Bestimmt die Umwelt, wer man ist? Treiben uns die Umstände in den Abgrund? Wenn Anna aus dem Fenster schaut und sinniert, blickt sie auf eine DDR-Neubausiedlung, wie sie in Marzahn und Hohenschönhausen noch immer stehen. Schön ist das allerdings weniger.

Anna hütet drei Kinder und hat noch ein viertes im Bauch. Um sie herum prollt das Leben gar bitterlich. Sie spricht in dem ganzen Film keine 10 Sätze und sieht betrübt aus. Dazu Grund gibt ihr auch Andreas, der vor ihren Augen mit einer anderen herum-macht, derweil Anna den Haushalt organisiert und sehr erschöpft wirkt.
Aha, denkt der Zuschauer, ein Sozialdrama, wie sie hoch in Mode sind bei den Festivals. Da braucht man dann keine Identifikationsfigur, weil eben der Realismus so pointiert wirken soll. Während also die Kinder schön nervig sind und Anna ihr Neugeborenes entsorgt, fragt man sich, warum man diese Studienarbeit schaut. Ach ja, man sitzt in der Perspektive Deutsches Kino, wo ebenjene Studentenfilme laufen, mit denen sich Filmschulen wie die KHM auf der Berlinale brüsten wollen. Nun gut. Im Abspann stehen Professoren, die die Regisseurin (und Autorin) Juliane Engelmann berieten. Diese hat vorher scheinbar nur fünf Kurzfilme gemacht und das Festival Contravision mitorganisiert. Kameraführung und Musik passen denn auch gut zum Sujet. Carmen Birk als Anna strahlt eine traurige Leere aus, die bei mancher Zuschauerin wohl Mitgefühl auslöst. Das ist lobenswert.
Aber das Drama hat auch Schwächen. Selten kam ein Mann so unmotiviert herüber wie der Bösling Andreas, der natürlich überspitzt von Stefan Riedner gespielt wird, weil es ein Film ist. Weil die Botschaft klar erkennbar sein soll mittels Antagonist. Er verkörpert die abwesenden Väter, die Nichtsnutze, die ihre Frauen und Kinder hängen lassen. Ungeniert zieht er zu seiner Tussi drei Häuser weiter. Schauspielerisch beeindruckt das wenig und sieht aus, als habe die Autorin einen Sündenbock gebraucht.
Pünktlich zur Filmmitte im zweiten Akt entbindet also Anna im Badezimmer unblutig und will es geheim halten. Ab diesem Zeitpunkt muss sie um ihre Entdeckung bangen und man wundert sich, welcher dramaturgische Trick jetzt angewendet wird. Es ist eine Kopie aus zig Filmen, in denen Frauen aus Angst ihre Babys ersticken.
Aber das Leben geht einfach weiter, wenn auch nicht für das entsorgte Baby. Keiner nimmt Notiz und die Müllabfuhr erledigt den Rest. Als Andreas wieder einziehen will, ringt sich Anna endlich zu einer Entscheidung durch und verhindert es. Dann kommt ihre Tochter zum Fenster und will weiterspielen. Zeit für Tränen.

Etwas mehr Handlung hätte diesem halblangen Spielfilm gut getan, denn dreißig Minuten könnten ein flotteres Erzähltempo zulassen. Technisch ist NARBEN IM BETON sauber gemacht, aber er unterhält nicht und ist daher untauglich fürs Kino. Vielfalt soll ja gerade bei Festivals aufscheinen und Gesellschaftsprobleme dürfen da nicht fehlen. Das Dauerthema der dysfunktionalen Familie treibt ja fast die Hälfte aller Produktionen um, die auf der Berlinale laufen.
Die Figuren haben hier aber keine Tiefe und das Drama fesselt zu wenig. Die Zielgruppe dürfte eher weiblich sein, wo das Thema Kinderkriegen ja ein Dauerbrenner ist, zumal angefacht durch die endlose Medienschlacht um das Prekariat. Daher kommt bestimmt auch die Filmförderung zum Thema Kindstötung. Ein Kondom wäre einfacher gewesen. Beim nächsten Film vielleicht dann Geld für ein professionelles Drehbuch einplanen. Oder wieder zurück zur Contra Medienwerkstatt und weiter üben.

Bewertung: * * *
Land:BRD
Jahr:2009
Regie:Juliane Engelmann
Mit:Carmen Birk, Stefan Riedner, Lisa Altenpohl, Maggy Domschke, Effi Rabsilber
Buch:Juliane Engelmann
Produzent:Arne Globisch
Kamera:Sin Huh
Musik:Philipp E. Kümpel, Andreas Moisa
Dauer:30 min


Produktionsfirma http://www.khm.de


Rezensent:Dave Lojek

Wo ich bin, ist oben

Auf Reisen mit Oma und Mama

Drei deutsche Frauen im Urlaubsvideo – Berlinale Shorts 2010

Großmutter, Mutter und Tochter unternehmen eine Reise nach Gran Canaria. Etwas, das wohl öfters in deutschen Familien vorkommt. Im Raum steht die Idee: Einmal noch mit Oma verreisen, wer weiß, wie lange das noch möglich ist... So machen sie sich auf, und die Enkelin, die Regisseurin Bettina Schoeller, nimmt den Urlaub mit der Handkamera auf.

Es sind nicht die Ferienbilder, die diese Dokumentation zwischen Koffer packen und Postkartenschreiben so sehenswert machen. Die Gabe der Regisseurin, die auch als Lehrdozentin der Filmschule Babelsberg tätig ist, liegt in dem Gespür für die feine Ironie, die durch das Zusammenwirken von drei Generationen, jede mit ihrer ganz eigenen Wirkung (drei Frauen aus drei Zeiten, drei Deutschlands und drei weiblichen Familienstellungen) eine aparte Dynamik entwickelt. Einerseits zeigt der Film eine aufschlussreiche soziale Analyse der Lebenswelten von drei Frauen aus einer Zeitspanne, die 85 Jahre umfasst, andererseits ist er aber auch eine ur-komische zum Teil Herz erweichende, voyeuristische Unterhaltungsshow: Vor allem Oma – die sich vollkommen ungekünstelt vor der Kamera ausspricht, ist mit ihrem ehrlichen Auftreten eine ideale Interpretin ihrer Generation.

Man wünschte sich allerdings ein wenig mehr Kontroverse. Zum Beispiel als die – sonst liebenswerte - Oma beim Anblick eines Paares unterschiedlicher Hautfarben in Lästerei ausbricht und behauptet, das sei doch furchtbar! Da bliebe sie doch lieber allein, als einen Schwarzen zu heiraten. Die Enkelin begnügt sich mit einer einfachen Nachfrage, hier wurde die Chance zu mehr inhaltlicher Auseinandersetzung vertan.

Auch das transportiert der Film: Trotz unübersehbarer Unterschiede bilden die drei Frauen eine wohl der typischen familiären Harmoniesucht Referenz erweisende genetische Einheit, die der Kompromissbereitschaft Geltung trägt, aber auf Kosten der eigenen Identität geht.

So endet die Reise schlicht mit einem Feuerwerk und der Anweisung der Enkelin an die Großmutter, die sich eben noch in ihren Postkartentexten erfreut darüber gezeigt hat, dass im Hotel ausschließlich Deutsch gesprochen wird, sich auf Spanisch zu verabschieden: „Sag ,Adios', Oma.“ Da kommt der Generationskonflikt allerdings für den Zuschauer zu spät.

Originaltitel:Wo ich bin, ist oben.
Deutscher Titel:Wo ich bin, ist oben.
Land:BRD
Jahr:2009
Regie:Bettina Schoeller
Mit:Tilli Beine, Reinhild Schoeller, Bettina Schoeller
Buch, Produzentin:Bettina Schoeller

Kamera:Bettina Schoeller

Dauer:18


Produktionsfirma:http://www.depoetica.de
Bewertung:* * * *
Rezensent:Verena Schulemann

17. Februar 2010

Spur der Bären

Wie holen wir die Weltstars nach West-Berlin?

Archivmaterial und Interviews zur Berlinale-Geschichte

Pünktlich zum 60. Geburtstag zeigt eine Dokumentation die Entwicklung des mittlerweile größten deutschen Filmfestivals, das sich wacker in der Riege der A-Festivals wie Cannes und Venedig behauptet. Neben vergnüglichen Fakten, viel schwarzweiß Archivmaterial aus den frühen Jahren und Interviews mit Stars kommen auch die Probleme zur Sprache, die mitunter bis zur Auflösung von Jurys oder gar dem Festivalabbruch führten. Man zerrieb sich 1970 und 1979 über bestimmten Filmen und deren politischem wie künstlerischem Gehalt.

Sympathisch und weise plaudert Tilda Swinton auch darüber, wie sie dieses Jahr in der Forum-Sektion gerne mal die Toiletten und Kinosäle reinigen würde, nachdem sie schon Bären-Preisträgerin und sogar Jurypräsidentin war. Tom Tykwer berichtet von Marathons in den 1980ern, wo er fast ununterbrochen in den Kinos saß. Das ermutigt uns junge Filmer, es ihm gleichzutun. DDR-Produzenten kommen ebenso zu Wort wie Großmeister des Autorenfilms.

Zu den weiteren Stimmen zählen Claudia Cardinale, John Hurt, Michael Winterbottom und Wolfgang Jacobsen ebenso wie Artur Brauner, Peter Schamoni, Michael Verhoeven, Wolfgang Kohlhaase, Katrin Sass, Ang Lee und Hans - Christian Schmid. Die Festivaldirektoren Moritz de Hadeln und Dieter Kosslick teilen kleine Geheimnisse. Kosslick trifft sich kurz vor den offiziellen Auftritten mit den Stars, damit es später so wirkt, als wären sie dicke Freunde.

Außerdem sieht man in historischen Interviews Alfred Bauer, Errol Flynn und Jean Luc Godard. Roman Polanski kann leider dieses Jahr seinen Film THE GHOST WRITER nicht persönlich präsentieren, da er ja festgehalten wird in der Schweiz. Werner Herzog hingegen leitet die Wettbewerbsjury.

Man erlebt, wie ein amerikanischer Offizier 1951 das Festival befürwortete und so der Nachkriegsstadt etwas Glamour verschaffte. Viele Berlinale-Direktoren hatten ihr Amt über Jahrzehnte inne. Irgendwann vollzog sich der Wechsel vom Festival der Filmstars zu einem der Filmemacher. Man erfand schrittweise neue Sektionen hinzu, um die Bandbreite des Filmschaffens von Kommerz bis Experiment abzudecken. Nach dem Forum erschuf man das Panorama mit einem Fokus auf Queer Film. Die Wegbegleiter und Festivalmacher beschreiben anschaulich, wie sie die Berlinale erlebten und streuen viele Anekdoten ein.

Zwar ist der Frauenanteil relativ gering, doch bekommt man einen guten historischen Überflug. Bewusst verzichtet diese Dokumentation auch auf Details zu Filmen, da dies den Rahmen sprengen würde. Unaufwändig aber charmant versammelt SPUR DER BÄREN genug Material, dass man erfrischt aus dem Kino kommt und auch etwas über ein Stück Berlingeschichte lernte. Die letzten Jahre kommen zwar zu kurz, aber die haben wir schließlich selbst erlebt. Wer dennoch die Filmtitel der 6 Jahrzehnte sucht, wird auf den aktuellen Berlinaleplakaten fündig.

Originaltitel:Spur der Bären
Deutscher Titel:Spur der Bären
Land:BRD
Jahr:2010
Regie:Hans-Christoph Blumenberg
Mit:Claudia Cardinale, John Hurt, Michael Winterbottom, Wolfgang Jacobsen, Artur Brauner, Peter Schamoni, Michael Verhoeven, Wolfgang Kohlhaase, Katrin Sass, Ang Lee, Hans-Christian Schmid, Tilda Swinton, Tom Tykwer, Alfred Bauer, Errol Flynn, Jean Luc Godard, Roman Polanski
Buch:Hans-Christoph Blumenberg, Alfred Holighaus
Produzent:Martin Hagemann
Kamera:Johann Feindt, Jule Cramer


Dauer:94 min
Wertung:* * * *
 Produktionsfirma:http://www.zerofiction.eu/


Rezensent:Dave Lojek

DERBY

Laß dein Kind erwachsen werden

DERBY bei den Berlinale Shorts 2010

Eltern tun sich schwer, wenn die Kinder erwachsen werden. Auf der einen Seite hat man lange den Moment herbei gesehnt, an dem man wieder für sich sein kann. Wenn's dann aber soweit ist, will man doch nicht so richtig los lassen – oder kann es nicht.
Als die Tochter erwachsen wird und den ersten Freund mit nach Hause bringt, ist das für Vater Mircea eine besondere Herausforderung. Der rumänische Regisseur Paul Negoescu hat sich dieser Thematik in seinem ironischen Kurzfilm angenommen, der in seiner unfreiwilligen Familienkomik an Loriots Streiche erinnert. Doch unernst ist in dem Film des 26-jährigen Diplom-Regisseurs gar nichts.

Da wird der junge Mann beim Hereinkommen kritisch beäugt, während der Hausherr es nicht nötig hat, vorm Fernseher aufzustehen. Alsdann wird sich bei der Mutter und eigenen Ehefrau beschwert, dass die Tochter doch nun zu jung sei, Herrenbesuch zu bekommen. Wobei der Vater von sich auf den Jungen schließt, was die Mama und Gattin in Personalunion sehr wohl erinnert - man war ja schließlich auch mal jung – und die Vorbehalte dementsprechend ab-bügelt.

Doch so leicht gibt sich der Papa nicht geschlagen. Am Abendbrottisch wird der Verehrer in die Mangel genommen. Ausgefragt, ungefragt kritisiert und schließlich landet man beim Fußballverein. Welch ein Fest, dass der junge Nestbeschmutzer der Konkurrenz zugetan ist. Da kann der Vater seiner Antipathie nun endlich freien Lauf lassen und mit Argumenten seinen Club verteidigen. Selbst den Schlachtruf des geliebten Vereins laut in der übersichtlichen Kleinbürgerküche zu skandieren ist gerechtes Mittel zur Revierverteidigung, auch wenn es dafür böse Blicke von den Damen gibt.
Am Ende steht Mann gegen Mann, doch der Jüngere hat das Zimmer der Tochter längst erobert und auch das überraschende Eintreten des auf Krawall gebürsteten Vaters erweckt wenn dann höchstes Mitleid. Jugend punktet und siegt. Dem Papa bleibt nur noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Alt werden wir alle irgendwann.
Originaltitel:DERBY
Deutscher Titel:DERBY
Land:Rumänien
Jahr:2009
Regie:Paul Negoescu
Mit:Bogdan Voda, Clara Voda, Nicolas Teodorescu, Maria Mitu
Buch:Paul Negoescu
Produzent:Paul Negoescu
Kamera:Andrei Butica
Musik:Roxana Mocanu
Dauer:15 min
Bewertung:* * * *
Rezensentin:Verena Schulemann