Es gibt gute und weniger gute Filmjahre. Geschmack laugt
aus. 2014 muss entweder ein mittelprächtiges Jahr gewesen sein, oder ich hatte
schlicht Pech bei der Auswahl meines Filmprogramms auf der Berlinale 2015, die
sich als Werkschau zumeist unbekannter internationaler Langfilmer für
Gesellschaftsdramen und sperrige Kunstversuche versteht. Wenige der insgesamt 441
Beiträge (es waren schon einmal über 600) werden regulär im Kino zu sehen sein,
da ihr kommerzielles Potential erschreckend niedrig ist, oder die Verleiher und
Kinobetreiber das zahlende deutsche Publikum (die Til Schweiger + Fack ju Göthe
+ Schweighöfer Fraktionen) unterschätzen. Gelobt seien die frechen kommunalen
Programmkinos.
Die Kurzfilme konnte man getrost verpassen. Da gab es kaum
Lichtblicke. Wiederholt hörte ich flüchtende Zuschauer fragen, wer denn die
Filme auswähle. Tatsächlich sind es seit vielen Jahren die gleichen
Personen und deren Assistenten, die sich durch zehntausende Stunden der 7265
Berlinale-Einreichungen quälen. Zu deren Verteidigung sei gesagt, dass sie ja
nur auswählen können, was eingereicht oder eingeladen wird. Sie müssen ihre Sektionsprofile
schärfen und verlangen Weltpremieren. Einreichgebühren belaufen sich auf stolze
120 € pro Spielfilm und 60 € pro Kurzfilm. Den mit 20 000 € dotierten Kurzfilmpreis
von Audi gewann der Experimentalfilm PLANET
Σ. Wie üblich wird der nun die Runde machen auf anderen Festivals und dann
verschwinden aus der Wahrnehmung.
Wirklich viel Erfahrung im Filmemachen (Regie, Schnitt,
Kamera, Produktion, Schauspiel, Drehbuchschreiben, Licht, Musik, Ton) hat leider
keiner der Kuratoren. Zumindest ihre Filmographien sind sehr kurz. Sie arbeiten
als Festivalgestalter vom Staat bezahlt (6,5 Mio. €) und auf sicheren Posten.
Die Maschinerie um sie herum läuft durch hunderte Helfer, fleißige
Pressearbeiter, digitale Projektionen und protzige Sponsoren. Vielleicht lieben
die Festivalmacher wirklich Filme und können eben durch den Nimbus der
Berlinale immer wieder ihren eigenen Geschmack durchdrücken. Sie werden
fortwährend gelobt von der Klatschpresse. Der werfen sie einige Glamour-Stars
auf roten Teppichen vor. Umgarnt von Aufstrebenden und Profis aus der winzigen
deutschen und überschaubaren europäischen Filmindustrie, sorgt die Berlinale in
den Hinterzimmern für ein ganzes Jahresprogramm in Kinos und TV. Das Festival
erhöhte die Eintrittspreise und musste einen Besucherrückgang in Kauf nehmen.
Bleiben den Produzenten immer noch die Fernsehverwertung der
Sender-Eigenproduktionen und die von Redakteuren und Alleinentscheiderinnen
bewilligten Low-Budget Fördergeldfilme (von Studenten und Anfängern) sowie die
eingekauften Serien, von denen DEUTSCHLAND 83 floppen wird mangels kreativer
Werbung. Oder Experimentalfilme für Galerien. Ja, Andreas Dresen, Wim Wenders
und Werner Herzog drehten auch wieder was, aber das kann man getrost bis zur
TV-Sendung abwarten.
Also ist für die anderen A-Festivals in Cannes und Venedig noch
alles drin. (A bedeutet „alt“, also mehr als 65 Jahre Tradition.) Auf dem
Filmmarkt wurden auch konsequent viele andere Produkte und populäre Genres gehandelt.
Eine Frau im Publikum neben mir im ungemütlichen
Friedrichstadtpalast erwähnte, dass der Eröffnungsfilm und die eigene Reaktion
darauf sowie die Qualität der Berlinale-Tasche (Jutebeutel) das ganze Festival
bestimmen. Der Film fing mit 30 Minuten Verspätung an, nur damit Dieter
Kosslick einen müden Bühnenwitz nach der Vorstellung halten konnte und prahlen,
wie 2-fach überbucht die Premiere im Berlinale-Palast gewesen sei. Anke Engelke
bemühte sich, die handvoll Weltstars (James Franco, Audrey Tautou) in der Eröffnungsgala
mit Flughafengags zu umgarnen, was wiederum Zeit kostete. Abgerundet wurde die
Gala durch eine dröge Kulturministerin und einen farblosen Bürgermeister, die
nahezu identische Reden hielten und sich gegenseitig unterboten. Wie viel diese
Leute vom Film verstehen, war nicht erkennbar, aber ihre Redenschreiber
schienen überfordert. Als Berufspolitiker punkteten sie erwartungsgemäß bei den
internationalen Kulturschaffenden nicht. Aber ihr Steuergeld nehmen wir gerne
an, um ein Fest zu feiern und das Klassensystem zu zementieren.
Die Jurys verneigten sich artig und kürten am Ende
diejenigen Außenseiter (IXCANUL, POD ELECTRICHESKIMI OBLAKAMI) zu
Bärengewinnern, deren Pressevorführungen entweder morgens um 9 Uhr stattfanden
(TAXI, EL CLUB, AFERIM), oder die einen One-Shot (Spielfilm ohne Schnitt:
VICTORIA) oder einen Selbstfindungsfilm (EL BÓTON DE NÁCAR) einer
unterprivilegierten älteren Frau zeigten (45 YEARS & BODY). Das kann man
aus dem Vorhersage-Algorithmus der Berliner Zeitung entnehmen. Nur ein
Bärengewinner hatte bekannte Namen (Charlotte Rampling in 45 YEARS).
Im Prinzip brauchten sich dieses Jahr alle, die mit
Weltstars in unterhaltsamen Groß-Budgetfilmen arbeiten, keinerlei
Bärenhoffnungen zu machen. Ihre Filmplakate haben das ja auch nicht nötig, denn
die Produktionen verfügen über Werbebudgets und den Sog der Namen!
Festivallorbeeren nützen eher den Unbekannten, die unter schwierigen
Bedingungen an langatmigen deprimierenden Realitätsdramen laborieren. Hach wie
düster ist die Welt!
Im Eröffnungsfilm NOBODY WANTS THE NIGHT von Isabel Coixet
enttäuschen insbesondere die Dramaturgie und die Länge. Eine hochnäsige Frau
(Juliette Binoche) reist 1908 ihrem Mann hinterher, der den Nordpol entdecken
will. Sie erlegt einen Bären. Eis und Schnee. Auf der Reise verunglückt ihr
Schneeführer (Gabriel Byrne). Grönland. Sturm. Sie schafft es nur bis zu einer
Hütte (Filmstudio-Sequenzen). Trotz Warnung der Einheimischen will sie dort
überwintern. Sie verfeuert das Holz des Anbaus. Das Essen geht zur neige. Sie
muss einen Schlittenhund kauen. Die Hütte bricht irgendwann in der Polarnacht
ein. Daneben steht ein Iglu, in dem die jüngere Inuitfrau Allaka (Rinko
Kikuchi) das Kind des gleichen Polarforschers erwartet. Nebenbuhlerin. Nach
anfänglichen Dünkeln freunden sich die beiden Frauen an. Allaka ist der
Lichtblick des Dramas. Das Kind zweier Mütter kommt zur Welt, aber sieht nie
die Sonne.
Wenn also der Eröffnungsfilm gleich so zäh und unsympathisch
herüberkommt, was soll dann noch folgen? Da hatte 2014 Wes Anderson mit GRAND
BUDAPEST HOTEL die Latte aber auch sehr hoch gelegt.
Zum Glück gibt es neben den Filmen in überfüllten Kinos auf
der Berlinale und im Dunstkreis viele
andere Attraktionen zum nützlichen Netzwerkeln. Namentlich den Empfang der
Filmhochschulen, die Young Filmmaker’s Party, den CinemaJam, die Script Station
der Talente, sowie den Stand der AG Kurzfilm auf dem Filmmarkt.
Vorspulen: Von einer RBB Reporterin am vorletzten
Festivaltag nach Superlativen befragt, konnte ich kaum gut antworten. Was der
emotionalste, lustigste oder frauenstärkste Moment gewesen sei oder welcher
Berlinfilm bei mir gepunktet hätte. Die Journalistin erwartete offensichtlich
knappe Antworten für Einspieler bei der Abendschau. VICTORIA scheint wohl wegen
seiner Machart Bären und andere Preise anzulocken, aber ich warte ebenfalls bis
zur Fernsehausstrahlung.
Lustig waren einige Kurzfilme auf der BODDINALE in Neukölln,
einem Gegenfestival für junges, rauchendes Szenepublikum. Das lachte bei THE PRINCESS STRIKES BACK aus Manchester genau an den richtigen Stellen. In dieser
Aschenbrödel-Parodie muss ein Aschendödel von der Prinzessin gerettet werden,
die die Stiefbrüder vermöbelt. Frauenpower in fünf Minuten.
Grimm-Gender-Switch.
CINDERELLA |
Zufällig am gleichen Tag langweilte die Berlinale uns mit
einem Disney-Remake von CINDERELLA. Diese Auftragsarbeit absolvierten Stars
unter Kenneth Branaghs Regie routiniert mit sehr großem Budget und teuren
Effekten aber ohne Herz. Ella (Lily James) muss erst den Tod ihrer Mutter und
dann auch den ihres Vaters verkraften. Die Stiefmutter (Cate Blanchett)
misshandelt und demütigt Ella, welche bei einem Ausritt einem Lehrling (Richard
Madden aus Game of Thrones)
begegnet, der bitteschön den Hirsch verschonen soll. „Habe Mut und sei
freundlich“, befahl die Mutter ihrer Tochter auf dem Sterbebett. Diesen Satz müssen
viele Figuren wie ein Mantra wiederholen. Der Lehrlingsprinz soll die Erbfolge
sichern und lädt alle Mädchen seines Reiches zum Ball mit Brautschau ein. Ella
bastelt sich das Kleid ihrer Mutter zurecht, was aber die Stiefmutter zerstört.
Schließlich muss eine vertrüselte Fee (Helena Bonham Carter) mit dem Zauberstab
fuchteln und alles geradebiegen. Der Rest ist bekannt. Die Guten gewinnen und
den Bösen wird verziehen.
Zu bemüht wirkt das Gehabe um die Merchandising-Produkte.
Das passiert, wenn man ein Märchen von 3 Seiten auf einen Spielfilm aufbläst.
Wieder ein Kinderfilm für die Idol-Industrie der Prinzessinnen und zur
Benebelung der weiblichen Rollenvorbilder. Sofort beim Fasching im Kindergarten
steigt die Anzahl der Prinzessinnen im Barbie-Look wieder.
Die Berlinfilme hatte ich nicht gesehen, oder Berlin spielte
keine wesentliche Rolle, wie in dem Wohnungskoller-Drama HOMESICK. Darin
entwickelt eine Musikstudentin durch Leistungsdruck eine Paranoia gegenüber den
Nachbarn, die sie aggressiv und suizidal macht.
Sie wäscht die Katze mit und beschuldigt andere. Sie fühlt
sich durch ein Fenster beobachtet. Dann schießt sie vielleicht um sich,
vielleicht aber auch nicht.
KNIGHT OF CUPS |
Wegen des Popcornverbotes auf der Berlinale verstehe ich,
warum das Festival leichte Unterhaltungsfilme kaum zeigt. Immerhin dürfte sich
Christian Bale in der Collage KNIGHT OF CUPS durch Affären mit Traumfrauen wie
Cate Blanchett, Natalie Portman, Freida Pinto, Teresa Palmer, Imogen Poots
schlafen und inneren Monologe einsprechen. Regisseur Terrence Malick blieb dem
Festival fern. Aber wenigstens ein paar bekannte Namen sind auf seinem Plakat!
Sein Produzent erwähnte in der Pressekonferenz, die Methode habe geheißen:
„Dreh, bevor du bereit bist“.
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