17. Februar 2015

Berlinale Abschlussbericht 2015



2 silberne Bären für 45 YEARS
Es gibt gute und weniger gute Filmjahre. Geschmack laugt aus. 2014 muss entweder ein mittelprächtiges Jahr gewesen sein, oder ich hatte schlicht Pech bei der Auswahl meines Filmprogramms auf der Berlinale 2015, die sich als Werkschau zumeist unbekannter internationaler Langfilmer für Gesellschaftsdramen und sperrige Kunstversuche versteht. Wenige der insgesamt 441 Beiträge (es waren schon einmal über 600) werden regulär im Kino zu sehen sein, da ihr kommerzielles Potential erschreckend niedrig ist, oder die Verleiher und Kinobetreiber das zahlende deutsche Publikum (die Til Schweiger + Fack ju Göthe + Schweighöfer Fraktionen) unterschätzen. Gelobt seien die frechen kommunalen Programmkinos.

Die Kurzfilme konnte man getrost verpassen. Da gab es kaum Lichtblicke. Wiederholt hörte ich flüchtende Zuschauer fragen, wer denn die Filme auswähle. Tatsächlich sind es seit vielen Jahren die gleichen Personen und deren Assistenten, die sich durch zehntausende Stunden der 7265 Berlinale-Einreichungen quälen. Zu deren Verteidigung sei gesagt, dass sie ja nur auswählen können, was eingereicht oder eingeladen wird. Sie müssen ihre Sektionsprofile schärfen und verlangen Weltpremieren. Einreichgebühren belaufen sich auf stolze 120 € pro Spielfilm und 60 € pro Kurzfilm. Den mit 20 000 € dotierten Kurzfilmpreis von Audi gewann der Experimentalfilm PLANET Σ. Wie üblich wird der nun die Runde machen auf anderen Festivals und dann verschwinden aus der Wahrnehmung.
Wirklich viel Erfahrung im Filmemachen (Regie, Schnitt, Kamera, Produktion, Schauspiel, Drehbuchschreiben, Licht, Musik, Ton) hat leider keiner der Kuratoren. Zumindest ihre Filmographien sind sehr kurz. Sie arbeiten als Festivalgestalter vom Staat bezahlt (6,5 Mio. €) und auf sicheren Posten. Die Maschinerie um sie herum läuft durch hunderte Helfer, fleißige Pressearbeiter, digitale Projektionen und protzige Sponsoren. Vielleicht lieben die Festivalmacher wirklich Filme und können eben durch den Nimbus der Berlinale immer wieder ihren eigenen Geschmack durchdrücken. Sie werden fortwährend gelobt von der Klatschpresse. Der werfen sie einige Glamour-Stars auf roten Teppichen vor. Umgarnt von Aufstrebenden und Profis aus der winzigen deutschen und überschaubaren europäischen Filmindustrie, sorgt die Berlinale in den Hinterzimmern für ein ganzes Jahresprogramm in Kinos und TV. Das Festival erhöhte die Eintrittspreise und musste einen Besucherrückgang in Kauf nehmen.
  
Bleiben den Produzenten immer noch die Fernsehverwertung der Sender-Eigenproduktionen und die von Redakteuren und Alleinentscheiderinnen bewilligten Low-Budget Fördergeldfilme (von Studenten und Anfängern) sowie die eingekauften Serien, von denen DEUTSCHLAND 83 floppen wird mangels kreativer Werbung. Oder Experimentalfilme für Galerien. Ja, Andreas Dresen, Wim Wenders und Werner Herzog drehten auch wieder was, aber das kann man getrost bis zur TV-Sendung abwarten.  
Also ist für die anderen A-Festivals in Cannes und Venedig noch alles drin. (A bedeutet „alt“, also mehr als 65 Jahre Tradition.) Auf dem Filmmarkt wurden auch konsequent viele andere Produkte und populäre Genres gehandelt.

Eine Frau im Publikum neben mir im ungemütlichen Friedrichstadtpalast erwähnte, dass der Eröffnungsfilm und die eigene Reaktion darauf sowie die Qualität der Berlinale-Tasche (Jutebeutel) das ganze Festival bestimmen. Der Film fing mit 30 Minuten Verspätung an, nur damit Dieter Kosslick einen müden Bühnenwitz nach der Vorstellung halten konnte und prahlen, wie 2-fach überbucht die Premiere im Berlinale-Palast gewesen sei. Anke Engelke bemühte sich, die handvoll Weltstars (James Franco, Audrey Tautou) in der Eröffnungsgala mit Flughafengags zu umgarnen, was wiederum Zeit kostete. Abgerundet wurde die Gala durch eine dröge Kulturministerin und einen farblosen Bürgermeister, die nahezu identische Reden hielten und sich gegenseitig unterboten. Wie viel diese Leute vom Film verstehen, war nicht erkennbar, aber ihre Redenschreiber schienen überfordert. Als Berufspolitiker punkteten sie erwartungsgemäß bei den internationalen Kulturschaffenden nicht. Aber ihr Steuergeld nehmen wir gerne an, um ein Fest zu feiern und das Klassensystem zu zementieren.

Darren Arronowsky, Jurypräsident
Die Jurys verneigten sich artig und kürten am Ende diejenigen Außenseiter (IXCANUL, POD ELECTRICHESKIMI OBLAKAMI) zu Bärengewinnern, deren Pressevorführungen entweder morgens um 9 Uhr stattfanden (TAXI, EL CLUB, AFERIM), oder die einen One-Shot (Spielfilm ohne Schnitt: VICTORIA) oder einen Selbstfindungsfilm (EL BÓTON DE NÁCAR) einer unterprivilegierten älteren Frau zeigten (45 YEARS & BODY). Das kann man aus dem Vorhersage-Algorithmus der Berliner Zeitung entnehmen. Nur ein Bärengewinner hatte bekannte Namen (Charlotte Rampling in 45 YEARS).
Im Prinzip brauchten sich dieses Jahr alle, die mit Weltstars in unterhaltsamen Groß-Budgetfilmen arbeiten, keinerlei Bärenhoffnungen zu machen. Ihre Filmplakate haben das ja auch nicht nötig, denn die Produktionen verfügen über Werbebudgets und den Sog der Namen! Festivallorbeeren nützen eher den Unbekannten, die unter schwierigen Bedingungen an langatmigen deprimierenden Realitätsdramen laborieren. Hach wie düster ist die Welt!

Im Eröffnungsfilm NOBODY WANTS THE NIGHT von Isabel Coixet enttäuschen insbesondere die Dramaturgie und die Länge. Eine hochnäsige Frau (Juliette Binoche) reist 1908 ihrem Mann hinterher, der den Nordpol entdecken will. Sie erlegt einen Bären. Eis und Schnee. Auf der Reise verunglückt ihr Schneeführer (Gabriel Byrne). Grönland. Sturm. Sie schafft es nur bis zu einer Hütte (Filmstudio-Sequenzen). Trotz Warnung der Einheimischen will sie dort überwintern. Sie verfeuert das Holz des Anbaus. Das Essen geht zur neige. Sie muss einen Schlittenhund kauen. Die Hütte bricht irgendwann in der Polarnacht ein. Daneben steht ein Iglu, in dem die jüngere Inuitfrau Allaka (Rinko Kikuchi) das Kind des gleichen Polarforschers erwartet. Nebenbuhlerin. Nach anfänglichen Dünkeln freunden sich die beiden Frauen an. Allaka ist der Lichtblick des Dramas. Das Kind zweier Mütter kommt zur Welt, aber sieht nie die Sonne.
Wenn also der Eröffnungsfilm gleich so zäh und unsympathisch herüberkommt, was soll dann noch folgen? Da hatte 2014 Wes Anderson mit GRAND BUDAPEST HOTEL die Latte aber auch sehr hoch gelegt.
Zum Glück gibt es neben den Filmen in überfüllten Kinos auf der Berlinale und im Dunstkreis  viele andere Attraktionen zum nützlichen Netzwerkeln. Namentlich den Empfang der Filmhochschulen, die Young Filmmaker’s Party, den CinemaJam, die Script Station der Talente, sowie den Stand der AG Kurzfilm auf dem Filmmarkt.

Vorspulen: Von einer RBB Reporterin am vorletzten Festivaltag nach Superlativen befragt, konnte ich kaum gut antworten. Was der emotionalste, lustigste oder frauenstärkste Moment gewesen sei oder welcher Berlinfilm bei mir gepunktet hätte. Die Journalistin erwartete offensichtlich knappe Antworten für Einspieler bei der Abendschau. VICTORIA scheint wohl wegen seiner Machart Bären und andere Preise anzulocken, aber ich warte ebenfalls bis zur Fernsehausstrahlung.
Lustig waren einige Kurzfilme auf der BODDINALE in Neukölln, einem Gegenfestival für junges, rauchendes Szenepublikum. Das lachte bei THE PRINCESS STRIKES BACK aus Manchester genau an den richtigen Stellen. In dieser Aschenbrödel-Parodie muss ein Aschendödel von der Prinzessin gerettet werden, die die Stiefbrüder vermöbelt. Frauenpower in fünf Minuten. Grimm-Gender-Switch.
CINDERELLA
Zufällig am gleichen Tag langweilte die Berlinale uns mit einem Disney-Remake von CINDERELLA. Diese Auftragsarbeit absolvierten Stars unter Kenneth Branaghs Regie routiniert mit sehr großem Budget und teuren Effekten aber ohne Herz. Ella (Lily James) muss erst den Tod ihrer Mutter und dann auch den ihres Vaters verkraften. Die Stiefmutter (Cate Blanchett) misshandelt und demütigt Ella, welche bei einem Ausritt einem Lehrling (Richard Madden aus Game of Thrones) begegnet, der bitteschön den Hirsch verschonen soll. „Habe Mut und sei freundlich“, befahl die Mutter ihrer Tochter auf dem Sterbebett. Diesen Satz müssen viele Figuren wie ein Mantra wiederholen. Der Lehrlingsprinz soll die Erbfolge sichern und lädt alle Mädchen seines Reiches zum Ball mit Brautschau ein. Ella bastelt sich das Kleid ihrer Mutter zurecht, was aber die Stiefmutter zerstört. Schließlich muss eine vertrüselte Fee (Helena Bonham Carter) mit dem Zauberstab fuchteln und alles geradebiegen. Der Rest ist bekannt. Die Guten gewinnen und den Bösen wird verziehen.
Zu bemüht wirkt das Gehabe um die Merchandising-Produkte. Das passiert, wenn man ein Märchen von 3 Seiten auf einen Spielfilm aufbläst. Wieder ein Kinderfilm für die Idol-Industrie der Prinzessinnen und zur Benebelung der weiblichen Rollenvorbilder. Sofort beim Fasching im Kindergarten steigt die Anzahl der Prinzessinnen im Barbie-Look wieder.

HOMESICK
Die Berlinfilme hatte ich nicht gesehen, oder Berlin spielte keine wesentliche Rolle, wie in dem Wohnungskoller-Drama HOMESICK. Darin entwickelt eine Musikstudentin durch Leistungsdruck eine Paranoia gegenüber den Nachbarn, die sie aggressiv und suizidal macht.
Sie wäscht die Katze mit und beschuldigt andere. Sie fühlt sich durch ein Fenster beobachtet. Dann schießt sie vielleicht um sich, vielleicht aber auch nicht.  

KNIGHT OF CUPS
Wegen des Popcornverbotes auf der Berlinale verstehe ich, warum das Festival leichte Unterhaltungsfilme kaum zeigt. Immerhin dürfte sich Christian Bale in der Collage KNIGHT OF CUPS durch Affären mit Traumfrauen wie Cate Blanchett, Natalie Portman, Freida Pinto, Teresa Palmer, Imogen Poots schlafen und inneren Monologe einsprechen. Regisseur Terrence Malick blieb dem Festival fern. Aber wenigstens ein paar bekannte Namen sind auf seinem Plakat! Sein Produzent erwähnte in der Pressekonferenz, die Methode habe geheißen: „Dreh, bevor du bereit bist“.

SELMA
Immerhin gab es den Oscarnominierten SELMA über Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung zu sehen. Den kann man getrost empfehlen in einer Zeit, in der Afroamerikaner noch immer unter Polizeigewalt und Ungleichheit zu leiden haben. Eine Geschichtslektion wie diese würde manchen Rassisten gut tun, um sie zu mäßigen. 

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