10. März 2010

Berlinale Abschlussbericht 2010

http://serum-core.de/apeiron/main/pics/2010_berlinale.jpgWETTBEWERB | SPECIAL | GENERATION | RETROSPEKTIVE 

Das war sie also, die sechzigste Berlinale. Ein rüstiges Mädchen, dem man stellenweise das Alter nicht anmerkte. Tapfer harrten die Autogrammjägerinnen im Schnee aus, um an Leo, Juliane, Moritz, oder Shah Rukh Kahn für Sekundenbruchteile auf Atemwolkennähe heran zu kommen. Artig absolvierten die zumeist unbekannten Schauspielerinnen und Produzenten die Rituale der Pressekonferenzen. Gedrängt lauschten die erwählten Jungfilmer beim Talent Campus den etablierten Medienschaffenden. Allerhand Bärenpreise und Ehrungen fanden ihre glücklichen Gewinner. Marlene Dietrichs Hologramm ließ sich mit Touristen vor ihrem neuen Ehrenstern fotografieren. Warteschlangen bevölkerten Kinos, Kassen und brandeten gegen Türsteher. Über 300.000 Karten erwarben die Cineasten. Das freut auch die Tourismusbranche der Hauptstadt.

Unsereins trieb sich wie immer in Kinos und Lounges herum, tauchte in Fiktionen ein, kritisierte, netzwerkelte und genoss die exquisiten Speisen bei Partys und Empfängen mit Aug und Gaumen. Cinematografische Kleinode wechselten sich mit Enttäuschungen ab; es gab viel Mittelmaß und mehrmals Langweiliges zu sehen. Wo manch Regisseur sein Werk mit Sprache überlastete, verzichteten andere auf Handlung und verweigerten sich dem Publikum mit Streifen, die weder unterhalten noch provozieren. Deshalb erwähnen wir sie nicht. Detailliertere Kritiken zu einzelnen Filmen findet man ebenfalls auf unserer Webseite.

Die Finanzkrise spiegelte sich in preisgünstigen, schlichten Familienthemen wider, welche das gesamte Programm dominierten. Was Direktor Kosslick als Errungenschaft hinstellte, war eigentlich nur eine Bilanz des Geldrückzugs aus der Filmwelt. 200 Filme weniger als im Vorjahr wurden gezeigt. Da halfen auch die gestylten Kellnerinnen, Kartenabreißerinnen und Eleganzverströmer nichts oder die wenigen BMWs des neuen Sponsors. Wo alle deutschen Fördertöpfe ausgeschöpft wurden, hielt sich der Applaus in Grenzen und Buhrufe wurden lauter (HENRY 4 und JUD SÜSS). Immer mehr Menschen begreifen, wie verfilzt die Filmförderung in diesem Land geworden ist und wer dort den Fuß in der Tür hat. Da verwundert es kaum, welche Stoffe von welchen Autoren bis an die Produzenten gelangen. Allerdings hat längst eine Demokratisierung der Filmerszene eingesetzt, die unabhängig von Förderung und Festivals funktioniert und den Hochschulnachwuchs aus der PERSPEKTIVE zunehmend fade aussehen lässt. Wie zum Trotz gönnte sich die Berlinale einige hochauflösende Digitalprojektionen, die mitunter abstürzten.

Schärfer als früher trennte man Pöbel und Presse von den VIPs. Das vorherrschende Gefühl war das der verpatzten Selektion: Einerseits wählten Kommissionen Filme und Talent Campus Teilnehmer aus, die Jurys kümmerten sich dann um Preise. Andererseits wirkte das Programm beliebig und wie eine Lotterie mit vielen Nieten. Zwar kann auch die Berlinale nur aus dem wählen, was eingereicht wird, aber sie hat inzwischen einen Eventcharakter angenommen, der jedem noch so schwierigen und öden Film ein volles Kino beschert und von der Kritik losgelöst existiert. Das freut jeden Filmemacher, wirft aber Fragen nach dem Zweck solcher Massenveranstaltungen auf. Bei Weltpremieren konnte sich das Publikum vor dem Kartenkauf keine Meinung bilden, da die Berlinale Presseembargos verhängte um die Filme wenigstens einen Tag lang zu schützen.

Die Berliner Filmfestspiele fächerten sich wie üblich in Sektionen auf, ohne dass diese allezeit klar zu unterscheiden wären. So liefen anstrengende Kunstfilme im Wettbewerb und vergnügliche Schmankerl im Panorama oder Generation Programm, welches im 14plus-Segment dennoch leicht schwächelte. Beim Treffen der kleineren Berliner Filmfeste (Festiwelt) zeigte sich: Man braucht längst nicht mehr auf den Februar zu warten, um seltene internationale Filme im Kino zu sehen. Ganzjährig widmen sich diese Festivals und Workshops wie das KINOKABARET den unterschiedlichsten Genres und Regionen, tragen brav zum Kulturüberangebot der Hauptstadt bei.

Während nun die roten Einwegteppiche im Stadtzentrum vom Boden gerissen und die Plakate eingerollt wurden, lohnt sich eine Rückschau auf Geflimmertes und Erlebtes.


Der türkische Beitrag BAL von Semih Kaplanoglu gewann im WETTBEWERB den goldenen Bären. Darin lernt ein kleiner Junge das Imkerhandwerk. Die Jury um Werner Herzog war davon begeistert. Kann man nun auf einen regulären Kinostart hoffen? Bisher reagierte das Publikum außerhalb der Festivals oft wenig auf Preisträger.
Leonardo DiCaprio spielt in SHUTTER ISLAND den Ermittler Teddy Daniels, der das Verschwinden der Insassin eines abgelegenen Hochsicherheitssanatoriums in den 50er Jahren untersucht. Dabei gerät er in eine Verschwörung, die ihn immer paranoider macht. Ben Kingsley leitet als Dr. Crawley die Einrichtung und Mark Ruffalo steht unserem Helden zunächst als Kollege Chuck zur Seite. Allmählich begreift man, dass man in einer vielschichtigen Projektion des Protagonisten gefangen ist. Wir teilen also seine Schizophrenie. Martin Scorsese als gern gesehener Gast auf der Berlinale sorgte mit seiner Besetzung immerhin für etwas Glamour.

EN GANSKE SNILL MANN von Hans Petter Moland wurde zum Publikumsliebling gekürt. Darin erlebt ein frisch entlassener Häftling abstruse sexuelle Abenteuer und muss sich den Geistern und Kumpanen der Vergangenheit stellen. Mit umwerfender Situationskomik und exzellentem Ensembleschauspiel gelingt diesem norwegischen Film um Stellan Skarsgård als Ulrik das fast Unmögliche: Die Kritiker lachen ebenso herzlich wie das normale Publikum. Das liegt sowohl am Timing des Drehbuchs als auch an der trockenen Erzählweise. Die Figuren haben alle mehr oder weniger gravierende Psychomacken, weshalb Ulrik mit seiner stoischen Art einen wunderbaren Kontrast erzeugt. Hut ab!

Die unerwarteten Gewaltausbrüche eines Polizisten in THE KILLER INSIDE ME erschüttern ein ansonsten ruhiges Städtchen. Jim Thompsons Romanklassiker von 1952 reizte den Dokumentarfilmer Michael Winterbottom anscheinend so sehr, dass er sein Genre wechselte. Er besetzte den Film mit einem charmanten aber gestörten Cassey Affleck und der sexhungrigen Jessica Alba. Das eigentlich Originelle an der Geschichte ist nicht die Gewalt gegen Frauen, sondern deren Reaktion darauf: Sie lassen es aus Liebe geschehen. Die Kritik reagierte verhalten.

Als die Kinder des Lesbenpaares Nic und Jules ihren biologischen Vater Paul kontaktieren, wird für kurze Zeit das Familienleben in Lisa Cholodenkos THE KIDS ARE ALRIGHT durcheinander gewirbelt. Pauls Überraschung verwandelt sich in Vatergefühle. Die Damen überschütten den Eindringling mit Höflichkeit und ein Techtelmechtel mit Jules verkompliziert die Situation. Das gefiel dem Publikum, gerade weil es nach dem Strickmuster amerikanischer Drehbücher verläuft.

Roman Polanski konnte sich seinen silbernen Bären für THE GHOST WRITER nicht selbst abholen. Darin entdeckt der Ersatzautor (Ewan McGregor), der auf einer amerikanischen Insel die Biografie des britischen Ex-Premierministers Lang (Pierce Brosnan) schreiben soll, mysteriöse Dokumente, die seinem Vorgänger zum Verhängnis wurden. Als Lang von einem früheren Kollegen der Kriegsverbrechen im Irak beschuldigt wird, dringen Demonstranten und Presse fast in das Anwesen ein und Lang fliegt nach Washington. Langs Frau (Olivia Williams) schläft derweil mit dem Ghostwriter, der seinerseits gefährliche Recherchen anstellt. Dieser Film legte bereits einen schwachen Kinostart hin. Abgesehen von den Stars und dem Ende reißt er nicht so richtig mit.


In der Abteilung BERLINALE SPECIAL beeindruckte der rekonstruierte Klassiker METROPOLIS (1927) von Fritz Lang auch dank hervorragendem Rundfunk-Sinfonieorchester. Die in Argentinien gefundenen Szenen mit dem „Schmalen“ (Fredersens Spion, gespielt von Fritz Rasp) und weiteren Zwischenschnitten sind von der Bildqualität zwar äußerst mitgenommen, runden aber die bisherige verstümmelte Version mit Humor ab. Was man im Kino per Digitalprojektion geboten bekommt, lässt einen die unbequeme Bestuhlung im Friedrichstadtpalast vergessen.
In einer von New York inspirierten futuristischen Stadt mit extremem sozialen Gefälle bastelt der Wissenschaftler Rotwang (Rudolf Klein-Rogge) eine Maschinenfrau, der er das Aussehen der verträumten Heiligen Maria (Brigitte Helm) gibt. Freder (Gustav Fröhlich), der Sohn des Bürgermeisters, hat sich in diese verliebt. Eigentlich will Rotwang nur Hel, die verstorbene Frau des Stadtfürsten Fredersen, wiedererwecken, die er einst verehrte. Die blinzelnde Maschinenfrau (der Ur-Cyborg) verhext die Oberschicht und zettelt als Hure Babylon in der Arbeiterstadt eine Revolution an, bei der fast die Kinder der Arbeiterklasse ertrinken. Freder und Marie retten die Kinder und der Herz-Maschinist Grot (Heinrich George) verbrennt die Maschinenfrau auf dem Scheiterhaufen. Freder kämpft mit Rotwang und schmeißt ihn vom Kirchendach. Typische übertriebene Theatermimik aus der Stummfilm-Ära gesellt sich zu gigantischen Bauten und richtungsweisenden Filmtricks. Hinzu kommt dreimal die Botschaft des Films: Mittler zwischen Hirn und Hand muss das Herz sein! Alle Figuren sind symbolische Archetypen und selbst die Totsünden mitsamt Sensenmann stopfte der Regisseur noch hinein. Das verschlang das dreifache geplante Budget und floppte in den Kinos 1927, weshalb der amerikanische Verleih ja die gekürzte Fassung zeigte.
Der Inhalt wird beim Publikum als bekannt vorausgesetzt, weshalb selbst der Berlinalekatalog nur auf die Geschichte der Filmrestaurierung des Klassikers eingeht.

Einen italienischen Regisseur mit Ladehemmung erlebt man im Musicalfilm NINE von Rob Marshall. Basierend auf Fellinis autobiographischem Film 8 ½ und dem Musical von 1982 langweilt uns dieser Streifen mit Spielhandlung, die ständig durch überflüssige Showeinlagen in einem Filmstudio unterbrochen wird. Umgeben von Sexgöttinnen, Mutterfiguren und Musen, befällt Guido (Daniel Day-Lewis) eine Schreibblockade. Sein wahnwitziger Produzent brachte einen Film namens ITALIA ins Rollen, ohne auch nur eine Drehbuchseite zu haben und will in 10 Tagen loslegen. Nacheinander absolvieren folgende Schauspielerinnen ihre Gesangs- und Tanzauftritte: Penélope Cruz, Marion Cotillard, Nicole Kidman, Judi Dench, Sophia Loren, Kate Hudson. Wieder einmal zähle ich nicht zum Zielpublikum und ärgere mich, dass ein Musical verfilmt wurde. Selbstreflektive Filmfilme gibt es zuhauf und nur die akzeptable Spielleistung der Stars hindert mich am Wegrennen.

Pünktlich zum 60. Geburtstag zeigt die Dokumentation SPUR DER BÄREN von Hans-Christoph Blumenberg die Entwicklung des mittlerweile größten deutschen Filmfestivals, das sich wacker in der Riege der A-Festivals wie Cannes und Venedig behauptet. Neben vergnüglichen Fakten, viel schwarzweiß Archivmaterial aus den frühen Jahren und Interviews mit Stars kommen auch die Probleme zur Sprache, die mitunter bis zur Auflösung von Jurys oder gar dem Festivalabbruch führten. Man zerrieb sich 1970 und 1979 über bestimmten Filmen und deren politischem wie künstlerischem Gehalt (siehe Langrezension).


In der Sektion GENERATION (Kinder- und Jugendfilmfest) gewann die Dokumentation NEUKÖLLN UNLIMITED von Agostino Imondi den gläsernen Bären der 14plus Jury. Darin rappen und tanzen die Geschwister Lial, Hassan und Maradonna sich durch den „Problembezirk“ und später bis nach Paris. Allerdings ist ihre Mutter Libanesin; ständig droht einem Teil der Familie die Abschiebung. Talentiert und diszipliniert aber vergeblich versuchen die Schüler Lial und Hassan neben ihrer Ausbildung mit ihrer Kunst Geld zu verdienen, damit die restlichen vier Geschwister und die von Transferleistungen lebende Mama bleiben dürfen. Die Protagonisten erinnern sich in Animationsfilmsequenzen an ihre erste nächtliche Ausweisung aus Deutschland vor einigen Jahren. Polizisten, Angst, Panikanfall der Mutter, Flughafen, Fahrt durch eine Wüste, trostlose Libanesen. Leider vergaßen die Filmemacher eine entscheidende Information: Wie genau gelangte die Familie zurück nach Berlin?
Auf der Feier nach dem Triumph sagte der junge Maradonna, solche Partys wären nichts für ihn. Er würde lieber zu hause beten. Man konnte ihn in einer islamischen Demonstration am Roten Rathaus vorbeimarschieren sehen und erlebte ihn im Film oft als verhaltensauffällig und suspendiert. Dem Zielpublikum, das weit über den Kreis der Migranten hinausgeht, gefiel diese beschwingte Doku besser als alle fiktionalen Beiträge. Wer ist deutsch? Wer darf über Familienschicksale entscheiden? Bald startet NEUKÖLLN UNLIMITED im Kino, was man nur begrüßen kann!

Weiterhin sehr sehenswert im Programm für junge Leute waren das koreanische Waisenheimdrama A BRAND NEW LIFE, der schwedische Alleingängerfilm SEBBE (siehe Rezension), die amerikanische Komödie ums komplizierte „erste Mal“ YOUTH IN REVOLT und der Zeichentrickfilm WELCOME TO THE SPACE SHOW, in dem ein paar Kinder wilde intergalaktische Abenteuer erleben.

Im dänischen SUPERBROR erlangt der autistische Junge Buller durch Kontakt mit einem außerirdischen Spielzeug Superkräfte, was seinen kleinen Bruder Anton mächtig freut. Dieser war bisher der Mann im Hause, da die Mutter allein erzieht. Endlich kann Buller die gemeinen Piesaker von Anton vermöbeln und mit der Familie nach Paris zum Eisessen fliegen.

Zu den gelungenen 14plus Kurzfilmen zählen: MEGAHEAVY, KISSING IN A FRIEND'S MOUTH, AZ BAD BEPORSID und ØNSKEBØRN.
Eher enttäuscht oder gelangweilt war man nach den Spielfilmen TE EXTRAÑO (I MISS YOU), THE FAMOUS AND THE DEAD und SISTER WELSH'S NIGHTS.


Die RETROSPEKTIVE hatte mit IM REICH DER SINNE (1976) einen „kontroversen Sexfilm“ im Programm. Dieser brachte dem FORUM-Gründer seinerzeit eine Sittlichkeitsklage ein. Darin schaut man tatsächlich einem japanischen Paar zu, wie es sich ununterbrochen der Lust hingebt, bis einer tot ist. So richtig erregte das Erwürgen zwar nicht, aber immerhin waren nackte Menschen beim Liebesspiel auf der Berlinale zu bestaunen. Das passierte natürlich auch in vielen anderen Filmen, war aber nirgendwo sonst Hauptthema.

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