von Dave Lojek
Ein gemütliches Grenzstädtchen im fränkischen Fichtelgebirge. Spätwinterliche Nebelschwaden durchziehen schneebedeckte Hügel im April. Der schwere Kran lässt ein Stück Berliner Mauer auf den Platz vorm Kinocenter Selb einschweben. Darauf leuchtet das Bild des flüchtenden DDR-Soldaten, der beim Mauerbau über den Stacheldraht sprang. Welche Bewandtnis es mit dem Betonstück beim Festival hat, erfahren Sie weiter unten in der Besprechung der Dokumentation BIS AN DIE GRENZE.
Man lud mich nach Selb mit meinem Kinderfilm TWO TOO ODD | ZWEI SKURRILE ein, worin ein Koffertier die Wiener Vorstadt erkundet und sich mit einem Seifenblasenmädchen anfreundet. Als klassische Stummfilmkomödie drehten wir diesen Ulk beim Kino Dynamique mit der Akrobatin Martha und der Schauspielerin Angela.
Also nutzte ich in Selb die Chance zur Horizonterweiterung. Das Festival beköstigt und beherrbergt die anreisenden jungen Filmemacher freundlich, die sich sogleich beim Umtrunk verbrüdern und verschwestern, sofern ihre Egos das inmitten der Konkurrenzsituation erlauben. Nebel und Schnee bestellten die Kulturarbeiter, damit die Kinos auch als Aufwärmstuben locken.
Die 16000-Seelen-Gemeinde Selb liegt hinter Hof an der tschechischen Grenze zur ehemaligen Textilfabrikstadt Aš. So erklärt sich der Festivalname. Im Programm laufen hauptsächlich grenztematische Studentenfilme und unkommerzielle Produktionen freier Medienkollektive. Einige freie Kurzfilme stehen immerhin im Internet, viele verstecken sich in den Schubladen der Festivals und scheuen die breite Öffentlichkeit. Sie werden also als Übungen produziert und der medialen Amnesie geopfert.
Team von RITTER ROLAND mit Preisteller |
Wertung: * * *
Die Grenzland-Filmtage Selb zeigen vor den meisten langen auch kurze Werke. Sie bewahren also die im kommerziellen Kino nahezu ausgestorbene Tradition.
Mit einer Gruppe freundlicher Russen erkunde ich das nahe Bayreuth und lerne so Roman Volkov, den Drehbuchautor des Spielfilms Звено | KETTENGLIED kennen, der vielleicht meinen nächsten Film schreibt.
In Звено ergründet der vorm Militärdienst geflüchtete Chemiestudent Pawel in einem Waisenhaus als Erzieher das mysteriöse Verschwinden seiner Vorgänger. Er gerät in eine Geistergeschichte, die von Pionieren aus dem zweiten Weltkrieg angestoßen wurde. Als Enkel eines Naziverbrechers findet sich Pawel in einem Racheplot wieder, dem bereits ettliche junge Menschen zum Opfer fielen. Eine Geisterschönheit aus seiner Kindheit versucht, ihn zu retten.
Dieser Film hat ein klar erkennbares Genre und den typischen Spannungsbogen. Mit guten Schauspielern und feiner Kameraarbeit kann er trotz einiger Längen beim Publikum punkten, das gelegentlich zusammenzuckt. Wenige Kinder treten als Charaktere aus der Waisenhausgruppe heraus bis auf Max, den altklugen Kumpan. Pawel erzählt den Mädchen die Geschichte eines Freundes, der als werdender Vater bei der Rettung zweier Mädchen aus dem Fluss ertrinkt.
Das Waisenhaus birgt viele Räume zum durchstöbern, aber sein Personal wirkt einsilbig und abweisend. Pawel flirtet mit einer Jugendliebe, die sich aber als Geist herausstellt. Nach den Autopsieberichten des Arztes fühlt Pawel sich so bedroht, dass in ihm Neugier und Furcht miteinander ringen. So erzeugt Звено seinen Sog aus Geheimnissen und Fallen. Nur der komplett im Studio aufgenommene Ton irritiert. Ich bemerke, wie meine Seh- und Hörgewohnheiten meine Aufmerksamkeit bedingen. Nach einem frischluftreichen Wandertag sinke ich erschöpft in den Kinosessel. Dennoch bleibe ich wach und diskutiere angeregt mit den russischen Produzenten, denen das Weißbier schmeckt und die regionale Küche.
Wertung: * * * *
Festivals geben unentwegt Chancen, die Filmsprachen anderer Länder anzuhören. Wer sich dafür öffnet, entdeckt so auch Perlen. Entgegen meines sonstigen Filmgeschmacks zieht mich das herausragende, mit Laien gedrehte Sozialdrama MADE IN ASH von Iveta Grófová wegen seiner bedrückenden Realitätsnähe in seinen Bann. Hut ab vor den fünf Jahren Recherche und Filmarbeit!
Darin erlebt man, wie sich die Träume der sehr jungen slowakischen Näherin Dorota nach der Kündigung in der tschechischen Grenzstadt Asch auflösen. Mit einer Freundin meandert Dotota durch Phasen der Verzeiflung und Hoffnung, kann jedoch keine Hilfe von ihren Eltern erwarten. Sie zahlt im Wohnheim inzwischen schon keine Miete mehr und hört sich Ressentiments der Tschechen gegenüber den slowakischen und ukrainischen Gastarbeiterinnen an.
Made in Ash | Až do mesta Aš |
Ein unansehnlicher nuschelnder Deutscher, der fast dreimal so alt ist wie Dorota, bietet ihr in schäbigen Spellunken einen Ausweg durch Ehe an. Sie lässt sich von diesem reichen Greis schließlich verführen, was durch Glasscheiben zu sehen ist. Auch nimmt er sie in die Geisterbahn mit. Sie gewöhnt sich an ihn und fährt mit nach Deutschland.
MADE IN ASH zeichnet ein düsteres Bild der Provinz, die nach Werksschließungen für die Frauen oft nur den Straßenstrich zum Gelderwerb übrig lässt. Selten wurde das so realistisch abgebildet wie in diesem Dokudrama, das ein muliges Unbehagen weckt. Armut erstickt Hoffnungen und versteinert zarte Seelen, wenn der geistige und materielle Horizont so niedrig liegen. Man merkt, wie die Episoden in Fabriken und Clubs auch persönliche Erinnerungen der Regisseurin bebildern. Was als reine Dokumentation begann, wächst durch nur drei Laienschauspieler, kurze animierte Mädchenzeichnungen und die lebensechte Dramaturgie zu einem Filmkunstwerk heran, das sich viel Lob verdient. So schmerzt das Kino und wühlt auf. Man darf auf die nächsten Projekte von Iveta gespannt sein.
Wertung: * * * * *
Zurück zu dem Mauerstück, das die Selber nun vor ihrem Kino stehen haben. Claus Oppermann und Gerald Grote präsentieren mit BIS AN DIE GRENZE eine große Sammlung von Amateurfilmaufnahmen vom Kriegsende und Mauerbau über die Trennungsjahre Berlins bis zum Fernsehturmbau und Mauerfall. Dabei sichteten und digitalisierten sie in einem Kopierwerk Kistenweise 8mm und 16mm Material, das ihnen mittels Zeitungsaufruf zugetragen wurde. Auch das BDFA-Mitglied Hans Jürgen Fedders spricht in Zeitzeugeninterviews über seine persönlichen Erinnerungen am antifaschistischen Schutzwall. Kaum jemanden, der die deutsche Teilung bewusst miterlebte und erlitt, wird diese exzellente Dokumentation kaltlassen, auch wenn sie aus Westdeutscher Sicht gemacht wurde. Sorgfältig und mit Charme stellen die Filmemacher Bilder und Tondokumente zusammen, so dass anhand eines einzigen Bauwerks die Hauptstadtgeschichte nach dem Weltkrieg erfahrbar wird. Nicht zufällig werden sie in den Geschichtsunterricht an Schulen eingeladen, denn ihr Berlinfilm zeigt, wie die Menschen mit der Trennung umgingen und was sie für filmenswert hielten. Von Fassungslosigkeit und Abschiedsdramen wandeln sich die Aufnahmen zu Gleichgültigkeit und geheimen Ost-Reisen bis zum Jubel 1989. Diese DVD sollte in vielen Wohnzimmern für die Enkel bereitstehen, denen das Mauertrauma und das DDR-Kapitel ansonsten verlorengehen. Die Filmemacher reisen auch gerne zu Präsentationen an. Insbesondere für Autorenabende in Filmclubs des BDFA eignet sich diese Arbeit. Prädikat: Besonders wertvoll! Wertung: * * * *
Auch in Bayern leben also FilmliebhaberInnen, die schon zum 36. Mal eine internationale Kinoveranstaltung mit einem Verein organisieren. Die für ihre Porzellankunst berühmte Gemeinde feiert ihr jährliches thematisches Filmfest, auf dessen Eröffnung sich die Lokalpolitiker vorstellen und den Sponsoren gedankt wird, bevor zwei bayrische Komödien von Filmstudenten laufen.
In WELCOME TO BAVARIA von Matthias Koßmehl löst ein Grenzpolizist eine schwierige Gewissensfrage mit einem Afrikaflüchtling musikalisch. Grundegedanke des Kurzfilms ist, dass ein fiktives Bayern sich vor Flüchtlingsströmen schützen will, indem es seine Grenzen für sie schließt. Während also Wanderer und Pendler über einen Berggrenzposten gelassen werden, tritt der Polizist dem Afrikaner mit fester Stimme entgegen und zitiert Regularien. Der sympathische Schauspieler Njami Sitson lockerte bereits vor der Projektion das Publikum mit einer spontanen Trommelei und Gesang auf.
Wertung: * * * *
In Aron Lehmanns KOHLHAAS ODER DIE VERHÄLTNISMÄSSIGKEIT DER MITTEL erleben wir einen verzweifelten Regisseur, der nach dem Wegbruch seiner Produzenten ohne Geld sein Historienepos abdrehen will mit imaginierten Pferden (ergo Kühen) und Schlachten (Unterholz-Försterei). Nachdem Teile seines Filmteams sogleich abreisen, verwickelt sich der ebenfalls Lehmann heißende und von Robert Gwisdek gespielte Fanatiker in Komplikationen mit einem Dorfbürgermeister und der Lokalbevölkerung, um im völligen Wahnsinn zu enden.
Zunächst überredet er noch seinen Hauptdarsteller, sich auf das Abenteuer einzulassen und auf dem Ochsen zu reiten. Sogar die Dörfler lassen sich vom Choreographen trainieren. Doch ab einem bestimmten Punkt kippt die Fantasie, als sich der Verstand des Erduldenden mit einem Pling verabschiedet.
Was will uns diese Nabelschau erzählen? Obwohl man einen pseudo-dokumentarischen Streifen über versagende Filmemacher und irrwitzige Drehbedingungen mit einigen Einschüben aus dem Mittelalterstück sieht, beabsichtigt der Filmstudent laut eigener Aussage eher eine Geschichte über den Glauben an Träume. Pathoswarnung. Die wenigen Lacher aus dem Publikum strafen Lehmann ab. So friemelt er eine Dramödie zusammen, deren Zielpublikum nur aus den wenigen verkopften Filmstudenten und Amateuren des Landes besteht. Grundsätzlich ist es nobel, sich gegen Widrigkeiten mit Improvisation zu stemmen, aber Filme übers Filmemachen genügen sich zu oft in ihrer Selbstbeweihräucherung. Es gibt Ausnahmen wie SHADOW OF THE VAMPIRE.
Obwohl sich die Figuren im Film über die unprofessionellen Bedingungen beklagen, bleiben einige bis zu ihrem Ableben dabei, wie die Hauptschönheit Rosalie Thomass, die einen prima Filmtod hinlegt und deren Asche sogleich in den Fluss gestreut wird. Makaber aber konsequent. Wer also gerne meckernde Schauspieler (die Schauspieler spielen) und überenthusiastische Dorfbewohner im Kino sieht, darf ab Herbst 2013 in diese HFF-Potsdam und BR-Koproduktion eintauchen.
Ich war gespannt auf das Sound-Design, über das ich in einer Filmzeitschrift gelesen hatte. Angeblich 200 Tonspuren, die die Schlacht im Wald aufpusten sollten. Aber leider sprang der Funke der Begeisterung in dieser Geschichte nicht durchgehend zu mir über. Das liegt an der Einfallsarmut bei der Besetzung und am Drehbuch. Seit Jahren schon tauchen die gleichen Gesichter in ambitionierten HFF-Studentenfilmen auf, die dann nachts in dritten Programmen versendet und auf den einschlägigen Branchen-Festivals abgespielt werden. Sie mögen alle gut sein, was einige Festivalpreise belegen, aber die konsequente Ignoranz der Studentenfilmproduzenten gegenüber den unzähligen verfügbaren frischen Drehbuch- und Schauspieltalenten zeigt, dass man bewusst sehr wenige Menschen als Nachwuchs für den Kommerzrummel heranzüchten will. Über die eigentlichen Produktionsbedingungen von KOHLHAAS erfährt man nur, dass den Akteuren viel Freiraum gelassen wurde im Bild, damit es schön pseudokumentarisch wirkt. So stehen ab und zu stumme Kameraleute und Tonmänner im Bild, wenn man von der Spielhandlung zurück in die Dokumentarebene geht. Also wurde öfter mit zwei Kameras gearbeitet.
Warum bin ich so gemein zu dem Film? Ich drehe selbst unter weitaus geringeren Bedingungen meine Kurzfilme ebenfalls komplett ohne Budget seit vielen Jahren und Liste ihre Festivaldaten auf. Genau wie das Team von KOHLHAAS kämpfe ich gegen die Widrigkeiten, die die Filmkunst in diesem Lande nun mal charakterisieren: Überangebot, niedrige Zuschauerbindung, hektische Produktionsbedingungen, mimimalistische Budgets, Konkurrenzkampf, das Abschleifen des Regie-Egos mitsamt Illusionen an der Wirklichkeit und Bürokratie oder Industrie.
Hält mir diese Provinzkomödie einen Spiegel vor, in den ich lieber nicht blicken möchte? Trifft der "emotionale Kern" also genau den wunden Punkt? Oder nervt mich nach Vorführungen einfach nur der Auftritt junger und leicht arroganter Filmemacher, die durch sorgfältige Vorbereitung Filmförderung abfassen und später von der Filmerei leben möchten? Vielleicht ist es ein wenig von Allem. Daher macht man sich besser selbst ein Bild.
Wertung: * * *
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