26. Februar 2013

Berlinale Panorama 2013

von Dave Lojek

DON JON'S ADDICTION · ROCK THE CASBAH · CONCUSSION · UPSTREAM COLOR

Don Jon's Addiction
Passend zum Hauptthema Sex auf der 63. Berlinale darf man Joseph Gordon-Levitt in DON JON'S ADDICTION beim Wichsen beobachten. Sie lesen richtig. Der Playboy und Frauenbewerter Jon reißt jedes Wochenende in der Disko die heißesten Schnecken auf. Allerdings hat die Pornosucht ihn fest im Griff, weshalb er mehrmals täglich, teilweise direkt nach echtem Sex, seinen Laptop aufklappt und masturbiert, was sehr einprägsam und witzig durch ein Tonsignal und die Landung eines Papiertaschentuchs im Müllkorb markiert wird. Suchtroutine. Jon argumentiert wie auch James Franco in INTERIOR. LEATHER BAR, dass jeder Mann heutzutage Pornografie konsumiert. Er vergisst zwar die Rentnergeneration und Absitenzler, aber wir lassen die schlichte Aussage anhand gigantischer Klickzahlen auf Internetpornos gelten. Soweit zum Realitätsbezug. Der Film zeigt jedoch weder Geschlechtsteile der Schauspieler noch explizite Internetbilder, um nicht allzu streng zensiert zu werden. Europäische Kollegen des Jungregisseurs werden ihm deswegen Feigheit vorwerfen, aber wer einen Film verkaufen möchte, hält sich besser an die prüden Spielregeln. Sein Zielpublikum versteht die Andeutungen sicher.
Jon wetteifert mit seinen Freunden beim Einordnen von Diskomädchen in eine Skala. Darüber debattieren die Männer heftig, was zugleich ihren geistigen Horizont markiert. Die Erfolgsquote der Hormonbolzen gibt ihnen Recht. Die unvermeidliche dramaturgische Wendung erscheint in Form der Übertussi Barbara (Scarlett Johansson), die unseren Wichsweltmeister erpresst: Will er eine Beziehung mit ihr, muss er seiner Sucht entsagen und einen Abendkurs besuchen. Aber es wäre ja keine Sucht, wenn sie sich so leicht ausschalten ließe durch bloßen Befehl. Bei der wöchentlichen Schnell-Beichte in der Kirche berichtet der Don immerhin stolz, nur noch realen vorehelichen Sex zu haben.
Nach dem Abendkurs begegnet der Verliebte der seltsamen Dame Esther. Die von Julianne Moore gespielte Figur ist fast doppelt so alt wie er und scheint in einer psychischen Krise zu sein.
Wie meistert Jon die Herausforderung, Barbara seiner Familie vorzustellen? Warum kontrolliert sie ihn? Warum benimmt sich Esther so eigenartig? Was lernt unser trotteliger aber schnieker Held?
Anstatt den ganzen Film nachzuerzählen, sei hier noch auf den knackigen Schnitt und das erfreuliche Gag-Timing hingewiesen. Wer amerikanische romantische Komödien mag mit einfacher Dramaturgie, ist in diesem Film gut aufgehoben. Man erfreut sich an Gastauftritten und der kleinbürgerlichen Weltsicht, oder wartet auf die Nacktszenen. Der Schauspieler Joseph Gordon-Levitt landet mit seinem Spielfilmregiedebüt direkt auf der Berlinale. Davon träumen tausende Nachwuchskünstler mit weniger bekannten Namen oder Beziehungen in der Branche. Deren erste Gehversuche laufen - wenn überhaupt - nur in den Berlinale Sektionen PERSPEKTIVE oder FORUM. Wer es gerne etwas ernster oder experimenteller hat, schaue sich lieber einen der anderen Panoramabeiträge an!
     
Wertung: * * *


Rock the Casbah

Zu den relevanten Entdeckungen der Berlinale Programmgestalter gehört sicherlich ROCK THE CASBAH von Yariv Horowitz aus Israel. Eine Gruppe blutjunger Rekruten soll 1989 im Gaza-Streifen patrouillieren. Ihnen wird eingebläut, nur Gummigeschosse zu benutzen. Als Besetzer schlägt den Soldaten von der palästinensischen Bevölkerung großes Unbehagen und sichtbare Ablehnung entgegen. Ein kleiner Junge schießt mit dem Finger auf Tomer, den Frischling der bewaffneten Einheit. Nachdem Steinwerfer die Kompanie auseinandertreiben und verärgern, töten drei Jugendliche den Soldaten Iliya mit einem gezielten Waschmaschinenabwurf von einem Dach. Sie entkommen. Der Kommandeur ordnet daraufhin an, viele Verdächtige festzunehmen und zu foltern. Die Mütter klagen. Vier Rekruten müssen nun auf dem Dach kampieren um die Täter zu identifizieren. Das behagt der in diesem Haus lebenden muslimischen Familie keineswegs, denn die Soldaten benehmen sich rüpelhaft und die Familie fürchtet, als Kollaborateure zu gelten. Aki, Ariel, Haim und Tomer vertreiben sich die Wartezeit mit Rockmusik, aber die Lautsprecher des Muezzins übertönen den popligen Kassettenrekorder mit nervigen Alahu-Akbar Klängen.
Tomer kritisiert den Militäreinsatz offen, weshalb er natürlich seinen Offizieren auffällt. Er hat noch zwei Jahre Zwangsdienst vor sich in einer Stadt, die vor Guerillakämpfern strotzt. Einige Soldaten vergessen in ihrer Machposition schnell ihre Manieren, weshalb es ständig Zoff gibt. Die Eskalation scheint unvermeidlich, als der Kommandeur scharfe Munition anordnet.
Das besondere an diesem sehenswerten Antikriegsfilm ist seine Entstehungsgeschichte, die sich über 20 Jahre hinzog. Regisseur Horowitz berichtete dem Publikum, dass er Kriegsfotograf war in den frühen 90ern. Kameraden um ihn herum wurden traumatisiert vom Konflikt. Sein Filmprojekt wollte lange Zeit niemand in Israel anfassen oder finanzieren. ROCK THE CASBAH gilt jetzt als erster israelischer low-budget Kriegsspielfilm zu diesem heiklen Thema. Bisher gab es nur einen Animationsfilm darüber. Erfreulich: Arabische Länder bekunden ihr Interesse am Kinoverleih. Horowitz hat zwar keine Lösung für den Palästina-Konflikt, aber keine Seite wird ihn gewinnen können mit militärischen Mitteln. Wie jeder Antikriegsfilm verdeutlicht auch dieser die Sinnlosigkeit des Tötens, die zu einer Spirale aus Hass, Rache und mehr Gewalt anwächst. Horowitz betonte auch die Gefahr, die von Religionen und Ideologien ausgeht, welche als Vorwand für das Verstümmeln junger Seelen instrumentalisiert werden. Eine Generation Traumatisierter wandelt durch das heilige Land. Sie soll die letzte sein.

Wertung: * * * *


In CONCUSSION beschreitet die 42-jährige Abby nach einem kleinen Wachrüttler neue Lebenswege. Sie beginnt ein Renovierungsprojekt in der Großstadt und lädt sich Edelprosituierte ein. Ihrer Frau und den Kindern in der Vorstadt sagt sie davon nichts. Stattdessen lässt Abby sich von ihrem Handwerker überreden, selbst für viel Geld mit anderen Frauen zu schlafen. So lernt sie viele reiche und verschrobene Charaktere kennen. Mit einigen ist der Sex toll, aber mit den meisten eher ein Ventil.
Concussion
Wir erleben eine Welt voller Luxusgüter und überzogener Charaktere, die vielleicht typischer für Amerika sind als für Europa. Die Filmzutaten aus Geheimnis, Lust, Experiment und Beziehungssorgen mischt CONCUSSION recht ansehnlich zusammen.
Auch Lesben aus der Oberschicht haben Lebensmittekrisen, scheint uns die Regisseurin Stacy Passon sagen zu wollen. Es wundert nicht, das dieser Film im PANORAMA der Berlinale läuft, worin sich ein gefühltes Drittel des Programms mit den sexuellen Ausrichtungen der Protagonisten jenseits der Heterowelt befasst. Ob die Zielgruppe größer als die unmittelbaren Protagonisten ist, kann man schwer abschätzen.
Weder wird hier expliziter Sex abgelichtet mit sichtbaren Vaginas, noch finden sich passable Antagonisten. Dazu wählt Passon einen zu realitätsnahen Rahmen, der wenig fiktiv wirkt. Man könnte das als filmkünstlerische Stärke sehen. Wer jedoch etwas mehr Spannung oder Stimulus, Wagnis oder ein konkretes Ende im Kino wünscht, könnte leicht enttäuscht werden.

Wertung: * * *


Upstream Color
Die erzählerische Zumutung erwartet uns in UPSTREAM COLOR. Hier erlebt man eine undurchsichtige Handlung ohne klares Genre und bildverliebtes Herumdrucksen um einen Plot. Das mag daran liegen, dass sich der unsympathische Filmemacher Shane Carruth übernahm, der im Berlinale-Katalog als Kultregisseur gepriesen wird, obwohl er nur einen anderen Film drehte. Er schrieb, produzierte, drehte und schnitt seinen neuen Film selbst, denn er gestand dem Festivalpublikum, ein Kontrollfreak zu sein. Das allein muss noch nicht schlecht sein.
Worum geht es? Die wunderschöne Produktionsassistentin Kris (Amy Seimetz) gerät in einer Bar in die Fänge des Manipulators, der sie mit einem Drogenwurm willenlos macht und ihr gesamtes Geld klaut, nachdem sie Buchpassagen abschrieb aus WALDEN. Sie hebt alle Ersparnisse für ihn von allen ihren Konten ab und verkauft sogar die Goldmünzen, um damit ihre angeblich entführte Mutter freizukaufen. Dann verschwindet der Dieb komplett aus der Filmhandlung und Kris wird von einem Tonfetischisten operiert, der eine Transplantation mit einem Ferkel vollzieht. Schon trifft Kris auf Jeff, den der sparsame Regisseur gleich selbst spielt. Sie beginnen eine wirre Beziehung und erleben ihren Drogentrip, sehr wenig Sex. Dann finden sie noch andere, die vom Manipulator ausgenommen wurden. Kris erschießt den Schweinemann und baut eine Beziehung zu ihrem Ferkel auf.
Ein optisch guter Trailer lockte mich in diesen Film und mein eigener Kurzfilmtitel UPSTREAM. Ohne die Erklärungen des Regisseurs bliebe mir jedoch ein Großteil der intendierten Handlung verborgen. Das kann sowohl an meinem Filmgeschmack als auch an narrativen Schwächen liegen. Carruth wollte eine Gesellschaft zeigen, in der alle von etwas hypnotisiert werden und nur sehr langsam entdecken, was mit ihnen passiert.
Weder über das Filmbudget noch über die verwendete Kamera oder die Objektive wollte sich der Regisseur äußern. Die Bilder wirken wie in einem nicht enden wollenden Musikvideo. Wer gerne lange Experimentalfilme schaut und sphärische Musik hört, könnte UPSTREAM COLOR genießen. Sagen wir einfach, dieser Streifen ist sehr speziell, auch wenn ihn die Festivals mögen. Zumindest ein Wagnis gegen den Einheitsbrei.

Wertung: * *

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