Manchmal lohnt sich für den Kritiker bei der Berlinale eine Vorstellung mit dem Zielpublikum. In diesem Fall sind es Jugendliche im Alter des Gymnasiasten Sebastian, kurz Sebbe. Ihre Reaktionen kommen ungefiltert und erschrecken mitunter. Als Sebbe von drei stärkeren Mitschülern gehänselt, verprügelt, beschimpft und misshandelt wird, lachen einige Jungs im Kino, da sie über eine geringere Reflektionsfähigkeit verfügen. Pädagogen und Eltern haben also noch viel Arbeit vor sich. Ich durchlebte meine eigenen Flashbacks mit Hänseleien. Aha, die Empathie mit dem Protagonisten ist etabliert über sein Leiden.
Der Film spielt in Schweden. Sebbes junge Mutter Eva verarbeitet immer noch den Tod ihres Mannes, worunter auch der Junge leidet. Eva betrinkt sich regelmäßig und vegetiert als nächtliche Zeitungsausträgerin vor sich hin, verzweifelt an ihrer Armut. Trist und grau ist der Winter. In der Schule hat Sebbe nichts zu lachen, weshalb er manchmal schwänzt, lieber frierend Schrott sammelt und sich ein Moped aus einem Kettensägenmotor und einem Fahrrad bastelt. Sein Zimmer erstrahlt von hundert Glühbirnen. Freunde hat er keine. Seine Familie löst sich auf. Wohin also wenden?
Schauspielerisch bietet SEBBE einige sehr intensive Momente, die das Drama voranbringen. In Streits und Trauerszenen zeigt sich, dass die lange Probenzeit sich auszahlte und die Figuren präzise erarbeitet sind. Die vergnügte Kleiderschlacht mit Eva lockert die große Schwere auf. Ein symbolischer schwarzer Hund verfolgt Eva nach dem Einkauf, später sitzt Sebbe in dem Bus, der den Hund überfährt.
Das Sujet der Familienzerfalls steht ja derzeit filmisch hoch im Kurs. Regisseur Babak Najafi gab sich zwar wortkarg und mysteriös bei Publikumsfragen, ließ aber durchscheinen, er hätte mit diesem Film Abstand von klassischen narrativen Mustern genommen. So mag man es ausdrücken. Böse Zungen könnten auch von zu wenig strukturierter Dramaturgie sprechen, die dennoch bei Tränen anfängt und einen Bogen mit Steigerungen zum Ende bildet. In der Tragödie wäre das die Katastrophe. Fast. Teilen des Zielpublikums kam das dann wohl langweilig vor. Aber die Erwartungen an schwedische Spielfilme darf man als hoch bezeichnen, weshalb dieses ruhigere Portrait durchaus solide gemacht wirkt.
Sebbe beweist sehr viel Geduld und steckt jede Menge ein, bevor ihm der Kragen platzt. Er lernt die Einsamkeit kennen. Sein Nachbar und Oberpeiniger beschuldigt ihn des Diebstahls, obwohl er die strittige Jacke zum Geburtstag bekam. Man wartet darauf, dass Sebbe zurück schlägt. Schließlich schleicht er sich auf einen Tagebau in die Dynamitkammer. Sind wir etwa die Vorgeschichte eines Amokschülers geraten? Sehen sie selbst! |
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